Die spaete Ernte des Henry Cage
etwas vom Leben gesehen hatte, abgesehen von Schule, Uni und einem Jahr Goa.
»Was kriegen wir denn Jahr für Jahr?«, hatte er gefragt. »Immer die Gleichen – alle sehr klug, zugegeben, alle sind sie smart und machen ihre Hausaufgaben. Doch um ganz ehrlich zu sein, sie flößen mir Angst ein. Sie wissen mehr über unsere Firma als ich. Was ist denn nur aus der sorglosen Jugend geworden? Wo sind die Unangepassten, die Kratzbürstigen, bei denen uns ungemütlich wird? Wirkönnen uns doch sicher ein kleines Risiko im Jahr erlauben?«
Und so war Maude Singer, die Balletttänzerin gewesen war, bis eine Knieverletzung sie heim nach Bristol zwang und sie einen Abschluss in Kunstgeschichte machte, der einzige Joker des Jahres 1999 gewesen, den das Unternehmen sich leistete. Warum hatte sie sich beworben? Sie interessierte sich nicht sonderlich für Wirtschaft, aber sie war intelligent, schlau und hatte genug davon, knapp bei Kasse zu sein. Sie wollte auf die Überholspur, wollte eine eigene Wohnung, ein Auto, ein gut gefülltes Konto. Sie hatte zwar ihren Lebenslauf an alle achtundvierzig Firmen geschickt, die die Stellenvermittlung in Bristol für sie herausgesucht hatte, doch nur Henry Cage & Partners war an einer Dreißigjährigen ohne Berufserfahrung und mit einer vierzigseitigen Abschlussarbeit über »Die Skulpturen von Frank Dobson« interessiert gewesen.
Es hatte noch ein zweites Bewerbungsgespräch gegeben. Ein junger Banker, der gelangweilt ihren Lebenslauf überflog, hatte beim Titel ihrer Abschlussarbeit gestockt. »Wo um alles in der Welt nimmt der nur die Zeit her?«, hatte er gefragt. Maude erkannte, dass er an einen noch lebenden Frank Dobson dachte, damals Gesundheitsminister in Mr Blairs fügsamem Kabinett. Sie hatte sich leicht auf ihrem Stuhl vorgebeugt, hatte darauf geachtet, nicht zu lächeln, und geantwortet: »Er hat stets Hammer und Meißel in einer seiner roten Dokumentenschachteln. Dann arbeitet er, wann immer er Zeit findet.« Der Banker schien offenbar mit ihrer Erklärung zufrieden.
Und nun hatte sie gekündigt. Man hatte sie natürlich nicht ohne den Anschein eines Kampfes gehen lassen.
»Also, Maude, worum geht es? Normalerweise verlieren wir niemanden schon gleich zu Beginn seiner Karriere.«
Ed Needy, der Personalchef, war Mitte dreißig. Er war gut gebaut und trug die Haare kurz geschoren. Seine Augen waren blau und wirkten irreführenderweise aufrichtig. Er neigte den Kopf in einem sorgfältig einstudierten Winkel von fünfzehn Grad aus der Senkrechten und sah sie fest an. Eine Freundin hatte ihm mal gesagt, sein Blick habe ihr das Gefühl gegeben, er würde in die Seitenflügel ihrer Seele schauen, und nun hielt er diesen Blick für ein wichtiges Merkmal seiner Persönlichkeit. Maude, die glaubte, er habe vielleicht seine Serviette fallen lassen, sah zu Boden.
»Das muss Ihnen nicht peinlich sein.«
»Ist es nicht. Ich dachte nur, Sie hätten etwas verloren.«
Ed hatte sie in den Connaught Grill ausgeführt, wo sie an seinem üblichen Tisch in der Fensternische saßen. Ein Trainee bekam normalerweise kein Mittagsmenü für fünfunddreißig Pfund spendiert, aber Maude war hübsch, und Ed fürchtete, ihr Abschied würde die anderen Trainees beunruhigen.
»Es kommt mir nur so überhastet vor, wissen Sie? Ich weiß, es ist schon verwirrend, wenn man den Kollegen die ganze Zeit über die Schulter schauen soll. Warum geben Sie sich nicht noch sechs Monate Zeit? Wenn es Ihnen dann immer noch nicht gefällt, ist der richtige Zeitpunkt gekommen.«
»Ich glaube, das kann ich nicht.«
Ed zögerte. »Es geht doch nicht um etwas, worüber ich Bescheid wissen müsste, oder? Nichts Unerfreuliches, niemand, der Ihnen das Leben schwer macht?«
»Nein, nichts dergleichen. Alle sind sehr nett. Es herrscht eine tolle Atmosphäre, darauf können Sie stolz sein. Mir gefällt die Arbeit nur nicht.«
Ed wollte schon fragen, warum sie sich dann überhaupt erst beworben habe, dann fiel ihm ein, dass er die Antwort schon kannte. Er hatte zwei Umschläge in der Tasche. In einem steckten ihre Entlassungspapiere und ein Scheck über drei Monatsgehälter. Ed hatte entschieden, dass sie die Kündigungsfrist nicht einzuhalten brauchte (wozu noch die Tatsache groß herumposaunen, dass er sich bei der Einstellung geirrt haben könnte?). In dem anderen Umschlag steckte ihr Anschreiben an die Firma. Ed hatte vorgehabt, seinen Inhalt gegen sie zu verwenden, doch als er es im Wagen auf der Fahrt zum Restaurant
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