Die spaete Ernte des Henry Cage
Hal nach oben und machst Toast, und ich zeige Henry die Buchhandlung.«
Vielleicht war das vorher abgesprochen, doch Jane klang so, als sei sie gerade ganz spontan auf diese Idee gekommen.
Drei Zimmer waren den Büchern gewidmet, in jedem befanden sich ein paar Stühle zum Lesen. In einem Zimmer stand die britische Literatur, im anderen amerikanische Romane und Short Storys, im dritten Dichtung. DieRegale waren voll; auf den Fensterbrettern gab es Vasen mit Frühlingsblumen. Henry hoffte, nach dem Tee noch etwas Zeit zu haben, um ein wenig zu schmökern.
»Er war so aufgeregt und nervös in Erwartung deines Besuchs.«
»Er ist ein wunderbarer kleiner Junge.«
»Ja, er ist wunderbar – aber kein kleiner Junge. Ich rede von Tom.«
Jane öffnete die Tür zum Büro.
»Komm und setz dich, Henry. Ich möchte dir etwas zeigen.«
Das Büro hatte ein Fenster mit Blick auf die Salzmarschen. Henry hockte sich auf den Rand eines Stuhls, von dem aus er diesen Ausblick genießen konnte. Jane war in den Laden zurückgegangen.
»Das hier kennst du wahrscheinlich.«
Sie hatte ein kleines, in blaues Leinen gebundenes Buch mitgebracht. Er sah den Titel: Katherine Mansfields
Diary
.
»Ja, das kenne ich.«
»Als wir mit dem Laden anfingen, bestand das Inventar zum Großteil aus unseren eigenen Büchern, andere haben wir auf Buchmärkten und Haushaltsauflösungen erworben, ein ziemliches Durcheinander.«
Sie sprach langsam, so, als zögere sie, auf den Punkt zu kommen.
»Beim Sortieren habe ich in diesem Buch hier geblättert, so, wie du es gerade machst – dabei bin ich auf einen unterstrichenen Satz gestoßen, den einzigen im ganzenBuch, und ich dachte, wer immer das getan hat, muss sehr unglücklich gewesen sein.«
Sie reichte Henry das Buch, das sie an der entsprechenden Stelle aufgeschlagen hatte. Er würde nie wieder vergessen, dass die Zeilen sich oben auf Seite sechs befanden:
Es ist, als habe Gott seine Hand geöffnet und dich für eine Weile darauf tanzen lassen, um sie dann ganz fest zu schließen – so fest, dass du noch nicht mal schreien konntest.
Die Unterstreichung mit Bleistift war keine saubere, lerneifrige Angelegenheit mit dem Lineal, sondern eine tiefe, freihändige Wunde im Papier. Henry wurde es plötzlich angst und bange.
»Und dann schlug ich die Titelseite auf und entdeckte dort Toms Namen. Das Buch war aus seiner Unizeit.«
Jane stand vor ihm, hatte die Arme vor der Brust verschränkt und hielt sich so fest, dass ihre Finger fast in den Falten ihrer wollenen Ärmel verschwanden.
»All die Jahre ohne dich zu sein, war schwer für Tom. Wenn du ihn jemals wieder wegstößt, mache ich dir das Leben zur Hölle, das verspreche ich dir.«
Sie ließ die Hände fallen.
»Komm, wir gehen zu den Männern.«
Henry folgte ihr die Treppe hinauf und dachte: Mein Gott, wie sehr Nessa diese Frau mögen muss!
Nach Tee und Toast war Hal auf Henrys Schoß geklettertund hatte sein Gesicht gepackt; seine kleinen Finger lagen warm auf Henrys Wangen. Dann hatte er mit dem sanftesten Druck, wie ein guter Friseur, angedeutet, wie Henry den Kopf drehen sollte. Er hatte Henrys Gesicht schweigend begutachtet, so als wolle er es sich ins Gedächtnis brennen. Dann war er mit einem Lächeln vom Stuhl gehüpft.
Eine halbe Stunde später machte sich Henry auf den Rückweg. Er hatte nach Nessa gefragt, doch Tom hatte erwidert, dass sie ihm ihre Neuigkeiten lieber selbst sagen wolle. Sie hatten ihn zum Auto begleitet. Fremde, die durchs Dorf kamen, hätten ein harmonisches Familienbild vor Augen gehabt – eine hübsche Frau mit kornblondem Haar, die sich bei einem älteren Mann untergehakt hatte, die anderen beiden, ganz offensichtlich Vater und Sohn, vorneweg. »Wie schön«, hätten sie vielleicht gesagt.
Als Henry wieder in London war, hörte er seinen Anrufbeantworter ab. Nichts. Er war enttäuscht. Er ging duschen, wusste aber, dass er nicht schlafen würde. Sein Kopf war zu voll von den Ereignissen des Tages. Es war ein guter Tag gewesen, besser, als er sich hätte erhoffen können, er war Großvater geworden, er war mit seinem Sohn und seiner Schwiegertochter wiedervereint. Warum also, fragte er sich, bin ich nicht in Hochstimmung?
Er ging nach unten und kochte sich einen Kaffee, wobei er sorgsam darauf achtete, die entkoffeinierten Bohnen zu nehmen. Im Wohnzimmer standen die Fensterlädenoffen, und es war noch hell genug, um ohne künstliches Licht zu sehen, was er tat. Die Polaroids steckten nach wie vor
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