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Die Spieluhr: Roman (German Edition)

Die Spieluhr: Roman (German Edition)

Titel: Die Spieluhr: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Tukur
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nicht doch in meinem Hotelbett in der Rue Keppler und träumte?
    Ich versuchte mich aufzuwecken. Aber es gelang nicht.
    Ich war wach.
    Tatsächlich hatte ich an mein Äußeres bislang keinen Gedanken verschwendet, doch der Major hatte recht. Meine Kleidung war zwar unauffällig, die Farben eher altmodisch gedeckt, aber weder Jacke noch Hose oder Schuhe paßten zum Stil der Zeit, in die ich geraten war, und mußten mindestens befremdlich wirken.
    AUF EINER HOLZKISTE, die neben der Tür stand, hatte jemand eine Zeitung liegenlassen.
    Ich nahm sie an mich, es war ein französisches Journal. Auf der Titelseite wurde von Kämpfen berichtet, die sich in der Normandie abspielten. Das Datum war der 21. Juli 1944.
    Im unteren Teil stand ein Bericht über einen Anschlag auf den deutschen Diktator im fernen Ostpreußen.
    Die militärischen Widerstandsgruppen in Frankreich hatten sofort losgeschlagen und führende Köpfe von SS und SD in Paris verhaftet, als die Nachricht eintraf, der Diktator hätte den Anschlag entgegen anderslautender Meldungen nicht nur überlebt, sondern sei dabei fast unverletzt geblieben.
    Die Vorgänge, die ich den Tag über beobachtet hatte und in die ich nun mit hineinzurutschen drohte, waren das tragische Nachspiel eines längst überfälligen Staatsstreiches, der am Tage zuvor gründlich mißlungen war.
    Ich befand mich also etwa sechzig Jahre vor meiner Zeit.
    Der Tatbestand einer Zeitreise war zwar faszinierend, und insgeheim hatte ich mir so etwas auch immer gewünscht, aber nach allen Gesetzen der Physik war das, was ich hier erlebte, unmöglich.
    Was vorbei war, war vorbei und konnte niemals zurückgeholt werden.
    Und doch widerfuhr mir gerade genau das.
    Abgesehen von meiner Angst, nicht mehr zurückzufinden, erschreckte mich der Gedanke, im schlimmsten Jahr angekommen zu sein, das Europa seit Menschengedenken erlebte.
    Es herrschte ein mörderischer Krieg, und ganz offensichtlich verkörperte ich eine Person, bei der ein falscher Schritt oder eine unbedachte Entscheidung fatale Folgen haben würde.
    Das Bedrohlichste aber war, daß ich weder die Person, für die man mich hielt, noch ihre Lebensgeschichte kannte und unmöglich wissen konnte, wie ich mich zu verhalten hätte, sollte eine bestimmte Situation dies von mir verlangen.
    Ich versuchte diese mißlichen Gedanken zu verdrängen und trat durch die Tür.
    Ein paar Treppenstufen führten weiter nach unten, und es tat sich ein überraschend großer, hoher Raum auf. Das gemauerte Deckengewölbe wurde von zwei in der Mitte stehenden Granitsäulen getragen. Kamin, Refektoriumstisch und die üppigen animalischen Wanddekorationen, Hirschgeweihe, Federwild, Pelz- und Borstentiere, aus dem Leben geschossen und in angespannter Haltung konserviert, entsprachen ziemlich genau Jean-Lucs Beschreibung der Küche, die er gesehen hatte.
    Beide – Marquis und Major – aber waren verschwunden.
    NACH DEM LÄRM UND der Hektik draußen war es hier wohltuend still, und ich setzte mich auf eine Holzbank in die Nähe des Eingangs.
    Von der Decke, dort wo die Rundungen des Gewölbes an ihrem höchsten Punkt einander berührten und die Statik der Konstruktion vollendeten, hing ein schwerer, gußeiserner Leuchter, der ein diffuses, schummriges Licht verbreitete. Alles im Raum war sichtbar, aber es schien nur halb vorhanden, und als ich im rechten Winkel meines Auges einen Schatten bemerkte, dachte ich erst, es sei nichts weiter als eine plötzliche Eintrübung des Blicks, dem unsteten Licht der elektrischen Glühbirnen geschuldet.
    Ich hatte mich noch nicht umgewandt, um zu sehen, was es genau war, da sprang etwas Dunkles von der Wand und landete flatternd auf dem Fußboden.
    Es war eine Bekassine, eine Art Schnepfe, mit auffällig langem, spitzem Schnabel, die eben noch ausgestopft und mausetot auf dem Konsolenbrett der hölzernen, den Raum umlaufenden Wandverkleidung gestanden hatte.
    Der Vogel, von der Größe einer Taube, schüttelte die verstaubten Federn seines seit einer Ewigkeit unbenutzten Gefieders, stakste unsicher auf dem Fußboden umher, machte einen hilflosen Flugversuch und hüpfte schließlich durch eine Tür, die sich rechts des gewaltigen Kamins auftat.
    Nun fing es überall an, sich zu regen, zu schütteln, zu bewegen, und neues Leben fuhr in die präparierten Tiere wie ein satanischer Funken.
    Ein Marder sprang fauchend auf den Refektoriumstisch und riß einen Steinkrug und mehrere Gläser zu Boden, wo sie scheppernd zersprangen, ihm folgten

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