Die Sprengmeister und der unheilige Gral: Social Fiction (German Edition)
Warmes über seine Wangenknochen läuft, einen Umweg um den Mund macht und auf den Anzug tropft, in seinem Innern knackt es, als würde jemand mehrere große Schalter umlegen. Unvermittelt macht Carsten einen Schritt nach vorn, packt Mandys Kopf mit beiden Händen und drückt seinen Mund auf ihre Lippen. Schon nach wenigen Sekunden spürt er, wie Mandys Widerstand erlahmt. Fast so, als hätte man ein Ventil aus ihrem Schädel geschraubt, gibt sie die Körperspannung auf und sinkt gegen Carsten. Ihre Lippen werden weich und schaffen Raum für einen langen Kuss. Einen Moment scheint die Zeit stillzustehen, leise Wimmer-, Stöhn- und Keuchlaute sorgen für die Untermalung von Carstens neu entflammter und so gar nicht zu seinem Alter passenden Leidenschaft. Seine Hände wandern von Mandys Kopf hinunter zu ihrer Brust, verweilen kurz und beginnen schließlich die Knöpfe ihres Sakkos zu öffnen. Als die Hände unter den weichen Stoff gleiten, um Mandys Hüfte zu umfassen, spüren sie etwas, was dort nicht hinzugehören scheint. Carsten löst sich von Mandys Mund und richtet sich auf. Das Sakko ist von den Schultern bis auf die Oberarme gerutscht, darunter trägt Mandy eine halbtransparente graue Bluse und einen schlichten weißen BH. Carstens Aufmerksamkeit jedoch wird von einem anderen Bekleidungsstück in Anspruch genommen: Um ihre Taille läuft ein etwa handtellerbreiter, ebenfalls weißer Gurt, in dessen zigarettenschachtelgroßen Taschen jeweils ein blaues Päckchen Knetgummi steckt. Diverse verdrillte Kabel verbinden die Pakete mit einem futuristischen kleinen Alukasten, hinter dessen milchiger Abdeckung mehrere Anzeigen vor sich hin blinken. Carsten muss nicht die Erinnerung an seine alte Bundeswehrzeit reaktivieren, um zu wissen, was er da vor sich hat. Mandy ist eine lebende Bombe.
xxxix Mandys Geständnis
Hinterher weiß Carsten gar nicht mehr, wie er es geschafft hat, Mandy und seine Wenigkeit lebend und am Stück vom Grundstück der Hohe Wards und aus Münster-Zentral herauszuschaffen. Es gibt eben einfach Grenzen der emotionalen Belastbarkeit und Carsten hat seine Grenze gerade erreicht. Er sitzt mit Mandy im Schatten der Ruinen der alten Kanalbrücke am Lütkenbecker Weg und versucht, seine Gedanken zu einer sinnfälligen Aufstellung zu bewegen. Nicht einfach, wenn die Frau, die man liebt, frappierende Ähnlichkeit mit dem Opfer einer Hungersnot hat und heult wie eine Schlosshundfamilie. Carsten hat Mandy mit beiden Armen umschlungen und drückt ihren krampfartig zuckenden Körper an sich. Er kann jeden ihrer Knochen spüren, von seiner alten Mandy ist nicht mehr allzu viel Substanz geblieben. Immerhin ist er den Bombengürtel losgeworden, der jetzt um einen Stein gewickelt auf dem Boden des ehemaligen Kanals ruht. Ob die Bombe noch scharf ist, kann Carsten in diesem Moment egal sein, er hat andere Sorgen.
Der Mond hat schon eine halbe Runde über den Himmel gedreht, als Mandys Schluchzer leiser werden und sie zu guter Letzt wie tot in Carsten Armen liegt. Zeit für ein Gespräch.
«Willst du darüber reden?»
Mandy antwortet zunächst nicht. Ihr Kopf liegt an Carstens Brust, sie hält seine Hüfte umklammert. Schließlich beginnt sie zu sprechen. Carsten kann sie fast nicht verstehen, so leise ist ihre Stimme.
«Worüber reden?»
«Über das, was … mit dir … passiert ist …»
Eine weitere Äone vergeht, bis Mandy antwortet.
«Ich sterbe, das ist passiert.»
Jetzt fängt Carsten zur Abwechslung an zu heulen. Er macht kein Geräusch dabei, Mandy merkt es nur an den Tropfen, die auf ihr Haar fallen. Ein weiteres Zeitalter verstreicht. Schließlich ist es Mandy, die das Schweigen erneut bricht.
«Es tut mir leid, Carsten. Ich wollte dich nicht belasten. Überhaupt wollte ich dich da nicht mit reinziehen. Wenn ich gewusst hätte … Aber wie hätte ich wissen können, dass der Gärtner abends mit einem Tablett durch die Gegend läuft und Gäste füttert …» Mandy macht eine weitere Pause. «Ich habe Leukämie. Eine akute myeloische Leukämie, um genau zu sein, und zwar im letzten Stadium: Die leukämischen Zellen haben bereits Knochenmark und Blut durchsetzt, Lymphknoten, Milz und das zentrale Nervensystem sind infiltriert, das heißt Verdrängung der normalen Blutbildung, ein Mangel an Erythrozyten, Blutplättchen und funktionsfähigen reifen Granulozyten. Maximal noch zwei Wochen, höchstens drei. Die wollte ich mir ersparen.»
«Aber kann man Leukämie nicht mittlerweile heilen? Hätte man
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