Die Springflut: Roman (German Edition)
sich schon überlegt, wie er es ihr erklären würde. Er habe auf der Straße ein Los mit hundert Kronen Gewinn gefunden.
So viel würde er bekommen, falls es heute Abend gut laufen sollte.
Den Betrag würde er seiner Mutter geben.
In Ackes Augen spiegelte sich Stahl.
D ie beiden Gestalten lauerten hinter einem Transporter.
Es war kurz nach zwölf, mitten am Tag und mitten in einer Eigenheimsiedlung im Stockholmer Vorort Bromma. Auf der anderen Straßenseite ging ein Vater vorbei, der einen Kinderwagen schob. Die Kopfhörer seines Handys steckten in seinen Ohren, und er telefonierte geschäftlich. Elternzeit zu nehmen, war eine Sache, nicht mehr an die Arbeit zu denken, eine ganz andere. Glücklicherweise ließ sich heutzutage ja beides kombinieren. Voll auf seinen Job und etwas weniger auf das Kind im Wagen konzentriert, rollte das Paar deshalb vorbei und verschwand.
Die Gestalten sahen sich an.
Die Straße war wieder leer.
Rasch schoben sie sich durch die Hecke auf der Rückseite des Hauses. Der Garten war voller Apfelbäume und großer Fliederbüsche, die ihr Eindringen ausreichend verbargen. Leise und gekonnt brachen sie die Küchentür auf und verschwanden im Haus.
Eine halbe Stunde später hielt vor einem kleinen, gelben Haus in Bromma ein Taxi. Eva Carlsén stieg aus, warf einen Blick auf ihr Zuhause und rief sich in Erinnerung, dass das Dach neu gedeckt werden musste. Und neue Fallrohre benötigt wurden. Das war jetzt ihre Aufgabe. Früher war es die ihres Mannes Anders gewesen, aber nach der Scheidung musste sie sich selbst um alle praktischen Belange kümmern.
Das Haus in Stand halten und die Gartenarbeit erledigen.
Und alles andere.
Sie trat durch das Gartentor. Plötzlich packte sie die Wut. Blitzschnell kam der Schmerz. Er hatte sie verlassen! Aus sortiert! Sitzengelassen! Das Gefühl übermannte sie mit solcher Kraft, dass sie stehen bleiben musste und fast ins Wanken geraten wäre. Verdammt, dachte sie. Sie hasste es, wenn sie sich nicht im Griff hatte. Sie war ein logisch denkender Mensch und hasste alles, was sich ihrer Kontrolle entzog. Um sich zu beruhigen, atmete sie mehrmals tief durch. Das ist er nicht wert, dachte sie. Das ist er nicht wert, das ist er nicht wert. Wie ein Mantra.
Sie ging auf das Haus zu.
Zwei Augenpaare verfolgten ihren Weg vom Gartentor zur Haustür. Als sie nicht mehr zu sehen war, verschwanden sie hinter dem Vorhang.
Eva Carlsén öffnete ihre Handtasche, um den Schlüssel herauszuholen, als sie im Nachbarhaus eine Bewegung wahrnahm. Wahrscheinlich spionierte Monika ihr mal wieder hinterher. Monika hatte Anders sehr gemocht. Sie hatte über den Gartenzaun hinweg über seine Scherze gelacht und ihn angestrahlt. Als sie von der Scheidung hörte, hatte sie ihre Schadenfreude kaum verbergen können.
Eva Carlsén zog den Schlüssel heraus, steckte ihn ins Schloss und öffnete die Tür. Als Nächstes würde sie eine Dusche nehmen und alles Destruktive abspülen, um sich auf das konzentrieren zu können, was wirklich wichtig war. Ihre Artikelreihe. Sie machte zwei Schritte in den Flur hinein und wandte sich den Kleiderhaken zu, um ihre dünne Jacke aufzuhängen.
Im nächsten Moment wurde sie von hinten niedergeschlagen.
*
Das Verkaufstreffen neigte sich dem Ende zu, und alle wollten in die Stadt, um ihre Zeitungen loszuwerden. Olivia musste in der Tür zur Seite treten und eine illustre Schar von Obdachlosen mit Zeitungsstapeln in den Händen vorbeilassen, die lautstark miteinander palaverten. Als Letzte kam Muriel vorbei, die sich zum Frühstück einen Schuss gesetzt hatte und sich königlich fühlte. Sie hatte keine Zeitungen, da sie keine Verkäuferin war. Um Situation Stockholm verkaufen zu dürfen, wurden gewisse Dinge von einem verlangt. Unter anderem, dass man in den Genuss der sozialen Unterstützung kam, die von der Gesellschaft angeboten wurde. Oder regelmäßige Kontakte zum Sozialamt, den Strafvollzugsbehörden oder der Psychiatrie hatte. Muriel konnte nichts von all dem vorweisen. War sie nicht deprimiert, war sie einfach guter Dinge. Dazwischen war sie auf der Jagd nach Stoff. Nun trippelte sie als Allerletzte ins Treppenhaus und gab Olivia die Möglichkeit, einzutreten. Sie ging zum Empfang und fragte nach Jelle.
»Jelle? Nein, keine Ahnung, wo der steckt, zum Treffen ist er jedenfalls nicht gekommen.«
Der Mann am Empfang sah Olivia an.
»Wohnt er irgendwo?«, erkundigte sie sich.
»Nein, er ist obdachlos.«
»Aber er taucht regelmäßig
Weitere Kostenlose Bücher