Die Springflut: Roman (German Edition)
hier auf?«
»Ja, um sich Zeitungen zu holen.«
»Hat er ein Handy?«
»Denke schon, wenn es ihm nicht gerade geklaut worden ist.«
»Haben Sie seine Nummer?«
»Die gebe ich nicht heraus.«
»Warum nicht?«
»Weil ich nicht weiß, ob er das möchte.«
Das akzeptierte Olivia. Auch als Obdachloser hatte man das Recht auf eine gewisse Privatsphäre. Deshalb hinterließ sie stattdessen ihre eigene Handynummer und bat den Mann, sie Stilton weiterzugeben, falls er auftauchen sollte.
»Sie können ja mal in dem Handyladen an der U-Bahn-Station Hornstull nachfragen«, mischte sich Bo Fast ein. Er hatte in einer Ecke gesessen und das Gespräch belauscht. Olivia drehte sich zu ihm um.
»Er kennt die Typen ein bisschen, die da jobben«, sagte er.
»Aha? Danke.«
»Sind Sie Jelle schon einmal begegnet?«
»Ein Mal.«
»Er ist ein bisschen speziell …«
»Inwiefern?«
»Speziell.«
Okay, dachte Olivia, er ist speziell. Im Vergleich zu was? Anderen Obdachlosen? Seiner Vergangenheit? Was meinte der Mann? Sie hätte ihm gerne noch die eine oder andere Frage gestellt, hatte aber nicht den Eindruck, dass Bo Fast eine sprudelnde Informationsquelle war. Sie würde wohl warten müssen, bis die Quelle selbst sich bei ihr meldete, falls sie es denn tun sollte.
Was sie bezweifelte.
*
Die Rettungssanitäter setzten Eva Carlsén eine Sauerstoffmaske auf und schafften sie eilig in den Krankenwagen. Sie blutete aus einer Wunde am Hinterkopf. Wäre ihrer Nachbarin Monika nicht die offene Haustür mitten am Tag aufgefallen, die ihre Neugier geweckt hatte, hätte es übel für sie ausgehen können. Der Krankenwagen fuhr mit heulenden Sirenen davon, während ein Polizist Stift und Notizblock herausholte und sich der Nachbarin zuwandte.
Nein, ihr waren in der näheren Umgebung keine fremden Personen oder ungewöhnlichen Autos aufgefallen, und nein, sie hatte auch nichts Ungewöhnliches gehört.
Die Polizisten im Haus waren bei ihren Ermittlungen erfolgreicher. Alle Zimmer schienen durchsucht worden zu sein. Geleerte Schubladen und Schränke, umgekippte Kommoden und zerbrochenes Porzellan.
Alles war verwüstet worden.
»Ein Einbruch?«, sagte ein Polizist zu einem zweiten.
*
Stilton brauchte neue Zeitungen. Er hatte alle verkauft, die er am Vortag erworben hatte, unter anderem das Exemplar, das Olivia Rönning gekauft hatte. Jetzt holte er sich zehn neue.
»Jelle!«
»Ja?«
Der Mann am Empfang hatte nach ihm gerufen.
»Eine junge Frau ist hier gewesen und hat nach dir gefragt.«
»Aha?«
»Sie hat ihre Handynummer hiergelassen …«
Stilton bekam einen Zettel mit einer Nummer und sah, dass darunter »Olivia Rönning« stand. Er ging zu einem runden Tisch und setzte sich. An der Wand hinter ihm hing eine große Zahl schwarz gerahmter Fotos von Obdachlosen, die im Laufe des letzten Jahres gestorben waren. Pro Monat starb im Schnitt einer, dafür kamen drei neue dazu.
Das Foto von Vera war gerade erst aufgehängt worden.
Stilton rieb den Zettel mit der Nummer zwischen den Fingern. Verdammt. Es passte ihm nicht, wenn ihm irgendwer auf die Pelle rückte. Wenn jemand ihn nicht in Ruhe ließ und versuchte, in seine Leere einzudringen. Das galt insbesondere für Menschen, die keine Obdachlosen waren. Wie Olivia Rönning.
Er schaute wieder auf den Zettel. Er hatte zwei Möglichkeiten. Sie anzurufen und die Sache hinter sich zu bringen, ihre verdammten Fragen zu beantworten und zu verschwinden. Oder sie einfach nicht anzurufen. Dann riskierte er allerdings, dass sie Veras Wohnwagen fand und dort auf tauchte, und das wollte er auf jeden Fall verhindern.
Er rief sie an.
»Olivia!«
»Hier ist Jelle. Tom Stilton. Rufen Sie mich an.«
Stilton unterbrach die Verbindung. Er hatte nicht die Absicht, sein Guthaben an diese Rönning zu verschwenden. Fünf Sekunden später klingelte sein Handy.
»Hallo! Hier spricht Olivia! Schön, dass Sie sich melden!«
»Ich habe es eilig.«
»Okay, aber Sie, ich … wollen wir uns treffen?! Nur kurz?! Ich könnte …«
»Was sind das für Fragen?«
»Es geht um … soll ich sie Ihnen etwa jetzt stellen?«
Stilton antwortete nicht, so dass Olivia improvisieren musste. Glücklicherweise lag der Notizblock neben ihr und sie begann, schnell ihre Fragen zu stellen, um die Gelegenheit zu nutzen, da sie nicht wusste, wann sie wieder Kontakt zu ihm haben würde. Oder ob es überhaupt ein nächstes Mal geben würde.
»War die Frau am Ufer betäubt, als sie ertränkt wurde? Wo befanden sich
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