Die Spur der Kinder
60er-Jahre-Plattenbautn in Ost-Berlin. Wobei Plattenbauten noch gelinde ausgedrückt wär.«
»Wie meinen Sie das?«
Er hielt den Schlüssel auf Augenhöhe und verzog das Gesicht. »Ick sach ma so: Leute wie Sie würdn in so ’ne Bruchbude wohl keen Fuß rinnsetzen.«
»Genauer können Sie’s mir nicht sagen?«, fragte sie und ließ die Schultern hängen.
»Nee, aber ick kann Ihnen dat Ding nachmachen, wenn Se wolln.«
Fionakaute auf ihrer Unterlippe. »Ist gut.«
»Dit dauert aber ’n paar Tage, ick muss dafür ja erst die passenden Rohlinge besorgen. Und umsonst is im Leben natürlich ooch nur der Tod«, grinste er.
»Keine Sorge, über die Bezahlung werden wir uns schon einig«, erklärte sie. »Also, wann kann ich den Schlüssel abholen?«
An seinem Fingernagel kauend, brummelte er: »Ick sach ma, kommen Se ma so Ende der Woche, Anfang nächster Woche vorbei.«
»Geht’s nicht auch etwas schneller?«
Er schnaufte. »Wie jesacht, ick muss den Rohling erst bestellen.«
Fiona ließ den Kopf hängen und betrachtete den Mann nachdenklich, bevor sie ihr Portemonnaie aus der Tasche zog und mit einer schwungvollen Handbewegung einen Hunderteuroschein auf den Tresen flattern ließ.
»Sind Sie ganz sicher?«
Der Mann zog seinen Hosenbund hoch und legte die Stirn in Falten. Dann steckte er das Geld ein.
»Sekunde«, murmelte er, legte den Kopf schräg in den Nacken und rief nach hinten: »Ruslaaaan! Kommst du mal kurz?«
Niemand antwortete.
»Ruslaaaan!«
»Ruhig Blut, Alter, bin ja schon da.«
Ein mit Goldketten behangener Muskelprotz kam aus dem Hinterzimmer.
Jelänger Fiona den Männern gegenüberstand, die sich verklausuliert über den Schlüssel berieten, desto sicherer war sie sich, dass die beiden laut über sie lachen würden, sobald sie den Laden wieder verlassen hatte.
»Warten Se ma kurz«, murmelte der Dicke dann, zog die Nase hoch und folgte dem Muskelprotz ins Hinterzimmer.
Fiona sah ihnen nach, bis sie hinter einem Stapel Kartons verschwanden. Es verging eine ganze Weile. Sie sah sich im Laden um und dachte für einen Moment daran, was ihre Romanfigur in der gegenwärtigen Situation wohl tun würde – bleiben oder verschwinden –, da kam der Dicke zurück. Er rieb sich mit dem Handrücken die Nase und reichte Fiona den nachgemachten Zweitschlüssel.
Geht doch.
Fiona griff nach dem Schlüssel, den er jedoch im gleichen Augenblick zurückzog.
»Was ist?«, fragte sie.
»Ein Brauner müsste da wohl noch drin sein.«
»Bitte?«, entfuhr es Fiona empört.
Er grinste. »Offenbar scheint Ihnen der Schlüssel dit ja wert zu sein.«
Die Diskussion ermüdete Fiona. Widerwillig händigte sie ihm schließlich einen weiteren Fünfziger aus und nahm den Schlüssel, dessen Metalleinkerbungen noch ganz warm waren, und verließ den Laden.
Ein60er-Jahre-Plattenbau in Ost-Berlin . In Gedanken überquerte sie die Straße zum gegenüberliegenden Taxistand.
Noch hatte sie nicht die geringste Ahnung, welch erschütternde Erkenntnis ihr der Schlüssel schon bald bringen sollte.
***
(Auf einem Friedhof in Berlin)
Die rotgoldene Abendsonne kündigte die letzten Stunden des Tages an und tauchte den Sankt-Elisabeth-Friedhof in ein warmes Licht. Kommissar Karstens stand gedankenverloren vor einem Grabstein.
Pauline Weinert
März 1973 – Oktober 2008.
Im Gedenken an unsere Kollegin,
die zu früh aus dem Leben gerissen wurde
Zehn Monate waren seit Paulines Beerdigung vergangen, doch Piet Karstens hatte die Zeremonie noch vor Augen, als wäre die Zeit seither stehengeblieben. Die Sargträger. Der Priester. Die fassungslosen Gesichter von Kollegen und Angehörigen.
»Kommschon, Piet, es ist unser letzter Einsatz – morgen um diese Zeit sitzen wir im Flieger nach Phuket und lassen’s uns so richtig gutgehen!«, hörte er Pauline immer wieder sagen. Es sollten ihre letzten Worte gewesen sein.
Karstens zündete eine Kerze an, stellte sie auf das von Blumen umsäumte Grab. Kopfschüttelnd dachte er an all die Sitzungen bei der Polizeipsychologin, die er vorschriftsgemäß hinter sich gebracht hatte. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, hatten ihn weder die Sitzungen bei der Psychologin noch das kleine Techtelmechtel mit ihr über Pauline hinweggetröstet.
Karstens nahm die Gießkanne und ging über einen schmalen Kiesweg unter einem Torbogen hindurch zum Brunnen. Für einen Moment kamen ihm Fiona Seeberg und die Eltern der anderen entführten Kinder in den Sinn, die kein Grab hatten, an dem sie
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