Die Spur der verlorenen Kinder
Gesicht, rief er die erste Romano-Nummer auf der Liste an. Sie war abgemeldet. Dasselbe mit der zweiten Nummer. Bei der dritten Nummer meldete sich ein Anrufbeantworter. »Sie wissen, wie’s geht«, sagte die Stimme. »Ich versuche, mich innerhalb von vierundzwanzig Stunden zu melden.« Piep.
»Mein Name ist Wayne Sheppard. Ich möchte mit Ihnen gern wegen Mira Morales sprechen. Sie war im Juni 1968 in Hütte elf in der Künstlerkolonie auf Tango Key. Sie haben ein Foto von ihr und Janis Joplin vor einer der Hütten gemacht und es in die Fotocollage, die im Empfang der Kolonie hängt, aufgenommen. Es ist dringend. Danke.« Er hinterließ seine Handynummer, setzte aus seiner Parklücke, begann mit den Nummern von Lydia Santos.
Tango: Anrufbeantworter. Er hinterließ eine Nachricht.
Manhattan: ein Zimmermädchen. Sie wusste nicht, wann Miss Santos wieder in der Stadt sein würde und behauptete, keine andere Nummer zu haben. Er hinterließ seine Nummer, betonte, dass es dringend war, und legte auf.
Seattle: endloses Klingeln.
Jamaika: Sein Handy war nicht für internationale Nummern freigeschaltet.
Noch einmal Seattle: Eine Frau ging ran.
»Ich möchte gern mit Lydia Santos sprechen.«
»Tut mir leid, Sir. Sie ist nicht da. Kann ich etwas notieren?«
»Ja. Mein Name ist Wayne Sheppard. Ich bin FBI-Agent auf den Florida Keys und muss mit ihr über eine Hellseherin namens Mira Morales sprechen, die sie im Juni 1968 in die Künstlerkolonie auf Tango Key eingecheckt hat.« Er nannte ihr seine Nummer, sie sagte, sie würde Miss Santos die Nachricht zukommen lassen, und er legte auf.
Drei unabhängige Beweisstücke: der Zettel von Nadine, die Registrierung, das Foto. Das Unmögliche war nicht mehr möglich, es war geschehen. Aber wie?
Sheppard fuhr zu der Adresse in Pirate’s Cove, die Gina ihm für Miss Santos genannt hatte. Es war die teuerste Gegend auf Tango, die preiswertesten Häuser hier begannen bei einer Dreiviertelmillion, die teuersten kamen durchaus auf fünf Millionen. Auch Stars frequentierten den Ort. Julia Roberts, Mel Gibson, Carly Simon und Tina Turner hatten hier Häuser. Einmal hatten Spielberg und Steven King in derselben Straße gewohnt.
Der Kolonie gehörten hier auch ein paar Immobilien, in denen sie ihre Besucher für Workshops und Seminare sowie die jährliche Buchmesse unterbrachten, an der auch One World Books beteiligt war. Erst vor ein paar Monaten hatten Mira und er die Krimiautorin Nancy Pickard im Laden gehabt, die im Gästehaus der Kolonie hier untergebracht gewesen war. Letztes Jahr war es Anne Rice gewesen war. Tango, dachte er, war vielleicht nicht groß, doch die Leute hier liebten Bücher, und viele Veranstaltungen rund um Bücher zogen Besucher sogar noch aus Daytona und Jacksonville an.
Er fand den Doubloon Drive mühelos, eine baumgesäumte Privatstraße, an der kleine Villen hinter schwarzen schmiedeeisernen Toren und Zäunen standen. Nummer 14 stand nicht unmittelbar an der Straße, und obwohl es nicht das größte Haus in der näheren Umgebung war, schätzte er es doch auf zumindest 1,5 Millionen. Nicht schlecht für eine Frau, die hatte mit ansehen müssen, wie ihr Großvater in Alabama gehenkt wurde.
Er hielt vor dem Tor und schaute zwischen den Stäben hindurch. So um einen Hektar, schätzte er, ein kleines Königreich auf einer Insel wie Tango. Und es war alt, das konnte er an den hoch aufragenden Banyans an der Auffahrt sehen. Ein Wagen stand am Ende der Auffahrt, doch niemand meldete sich über die Gegensprechanlage, als er klingelte. Es kamen auch keine Wachhunde.
Sheppard ging zurück zu seinem Wagen und holte einen Block, einen Stift und eine Rolle Klebeband aus dem Handschuhfach. Er schrieb einen Zettel, steckte ihn in die Tasche, dann kletterte er an dem schmiedeeisernen Tor hoch und ließ sich auf der anderen Seite herunter. Es war Einbruch, doch das interessierte ihn nicht. Er war so weit, dass ihn kaum mehr etwas interessierte, weder, dass er hier etwas Ungesetzliches tat, noch dass er gegen Dillards dienstliche Anweisung verstieß. Er huschte im tiefen Schatten zwischen den Bäumen hindurch.
Als er sich der Haustür näherte, konnte er das Nummernschild des Mercedes sehen. Er merkte es sich, dann ging er zur Tür. Er klingelte und hörte einen melodischen Gong im Inneren, er hallte durch geräumige Flure und große, ruhige Zimmer, wie er sich vorstellte. Niemand kam zur Tür. Er riss ein Stückchen Klebeband von der Rolle und fixierte den Zettel an
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