Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Spur der verlorenen Kinder

Die Spur der verlorenen Kinder

Titel: Die Spur der verlorenen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.J. MacGregor
Vom Netzwerk:
kam es ihr vor. Vermutlich hatte er ihn bei den anderen Kindern hinter dem Schuppen vergraben. Seinen anderen Misserfolgen.
    Nun, sie würde noch eine Weile nicht verhungern. Sie hatte ein wenig Obst im Kühlschrank, frisches Wasser aus dem Wasserhahn. Zumindest das letzte Mal, als sie sich die Hände gewaschen hatte.
    Sie rannte hinüber zur Küchenspüle, drehte den Hahn auf, und die Erleichterung durchfuhr sie. Wasser lief aus dem Hahn. Und wenn es mit etwas versetzt war? Er hatte bestimmt einen Brunnen oder eine Zisterne auf dem Grundstück, dachte sie, und dann konnte er ganz einfach Gift oder eine Droge hineinstreuen. Aber je länger sie darüber nachdachte, desto unwahrscheinlicher erschien ihr das. Wenn Peter sie umbringen wollte, würde er ihr einfach eine Kugel durch die Brust oder den Schädel jagen und sie vergraben. Gift oder Verhungern würde zu lange dauern, und ihr verrottender Körper würde zu viele Keime hinterlassen.
    Der Gedanke beruhigte sie allerdings nicht sonderlich.
    Jetzt gerade lebst du noch. Mach was draus.
    Annie sah sich langsam um, sie suchte nach etwas, das sie als Waffe nutzen konnte. Doch das hatte sie in den Tagen, seit sie hier war, schon tausendmal getan, und sie wusste, was es gab: sechsunddreißig kleine Badezimmerfliesen, einen Spachtel mit einer abgenutzten Spitze, der ihn allerhöchstens ärgern würde, wenn sie ihn damit stach, und ein paar Bleistifte. Ein spitzer Bleistift konnte durchaus ernsthaften Schaden an Auge oder Ohr anrichten, aber ihre Bleistifte waren genauso rund wie die Spitze des Spachtels.
    Sie betrachtete die Tür des Schranks mit den Reinigungsmitteln, ging hinüber, klopfte mit den Knöcheln dagegen. Wie die Haustür war auch diese aus Metall, aber die Laibung war aus Holz. Die Tür verfügte über ein ganz normales Schloss. Wenn sie das Holz mit dem abgenutzten Ende des Spachtels heraushacken konnte, könnte sie dann vielleicht irgendwie das Schloss knacken? Es war einen Versuch wert. In dem Schrank befanden sich Besen und Schrubber, Reinigungsmittel, alles Mögliche, womit sie sich verteidigen konnte.
    Sie lief ins Bad und holte den Spachtel, dann rannte sie zurück zum Schrank. Das Licht im Zimmer wurde schwächer, und sie hatte weder Taschenlampe noch Streichhölzer, gar nichts. Sie musste also im Dunkeln nach Gefühl arbeiten, dachte sie, und sie würde das tun, denn sie wusste, wenn sie es nicht täte, würde sie nicht mehr lange leben.

2
    Sein Verlangen war wie ein tiefsitzender, schrecklicher Juckreiz, an den er nicht herankam. Es verfolgte ihn, wenn er wach war, erfüllte sein Innerstes, bis er kaum noch denken konnte. Es saß bei ihm, wenn er aß. Es verhöhnte ihn, wenn er dem Mädchen Essen brachte, wenn er die Gräber der anderen Kinder besuchte, wenn er sah, wie Rusty sich mit Abscheu im Blick von ihm abwandte, das Phantom seiner verschwundenen Freundin von einst im Blick, die Verachtung. Es verfolgte Wheaton in seine Träume, in denen er Eva in all ihrer strahlenden, betörenden Schönheit sah, die Arme um Billy Macon geschlungen, während sie ihm süße Nichtigkeiten ins Ohr flüsterte.
    Und als er es nicht mehr aushalten konnte, gab etwas in Wheaton nach. Er erwachte an jenem Abend ruckartig aus dem Schlaf, er saß da und zwinkerte in die Schatten, die sich in den Ecken des Zimmers sammelten, und konnte sich nicht erinnern, wo er war, wie alt er war, in welcher Zeitzone er sich befand. Das gelang ihm erst, als er ein Foto von Rusty und seinem Hund sah, das er erst vor ein paar Wochen gemacht hatte, als sie von der Weide über die Straße auf ihn zukamen. Rusty hatte gerade die Hühner gefüttert und trug in der einen Hand einen leeren Eimer, in der anderen eine Futtertüte.
    Es ist 1968. Evie ist noch am Leben. Aber nicht mehr lange.
    Wheaton duschte, zog sich an und ging nach unten. Rusty war nicht da, sein Chevy stand nicht in der Auffahrt. Immer öfter war er weg, Wheaton sah ihn nur noch selten. Er überprüfte, ob der Strom für den Schuppen noch abgestellt war, wie seit heute Morgen früh, und fragte sich, wie lange es dauern würde, bis Annie aufgab.
    In der Küche nahm er die Schlüssel zum Schuppen vom Haken und steckte sie ein. Sie waren neu, genau wie die Schlösser am Schuppen selbst. Eine Vorsichtsmaßnahme, für den Fall, dass Rusty sich entschied, edelmütig zu sein und Annie zu befreien. Wenn er sich mit einem Hammer über die Schlösser hermachte, könnte er zwei kaputt kriegen, aber der Riegel stammte, wie die

Weitere Kostenlose Bücher