Die Spur der verlorenen Kinder
dem richtigen Wort, dann schüttelte er einfach nur den Kopf. »Gina, hier steht, dass sie von Lydia Santos eingecheckt wurde. Wer ist das?«
»Eine der Bewohnerinnen damals, eine Bildhauerin. Sie hatte ein schweres Leben. Als kleines Mädchen musste sie mit ansehen, wie ihr Großpapa in Alabama gehenkt wurde, dann war sie dabei, als ihr Mann bei einer Bürgerrechtsdemonstration getötet wurde. Aber mein Gott, die Frau hatte sogar damals Talent. Sie schuf Skulpturen, die waren der Wahnsinn. Die dort drüben ist von ihr.« Sie deutete auf eine exquisite Skulptur einer alten Frau und eines kleines Kindes, die vollständig aus Kupferdrähten bestand. »Jeder Bewohner spendet der Kolonie mindestens ein Werk. Manche auch mehrere. Selbst nachdem Lydia Erfolg hatte, kam sie immer noch her, um mit den Bewohnern zu sprechen, einen Workshop zu leiten oder so etwas. Ihre künstlerischen Wurzeln sind hier.«
»Sie lebt noch?«
»Oh ja, allerdings. Sie hat ein Haus hier auf Tango, wo sie einen Teil des Jahres verbringt.«
Er sah, dass Mira Lebensmittel im Supermarkt der Kolonie gekauft hatte, außerdem hatte sie einen Elektrowagen gemietet, der auf die Miete der Hütte aufgeschlagen wurde. Am 19. Juni hatte sie die Hütte für eine weitere Woche gemietet, am 26. für eine dritte. In der vierten Woche gab es keinen Eintrag mehr für Hütte elf. »Haben Sie eine aktuelle Adresse von Miss Santos?«
Gina grinste über das ganze Gesicht, sie strahlte wie ein Honigkuchenpferd. »Allerdings. Hier in meiner Rollkartei. Wenn Sie ein paar Minuten warten, suche ich sie Ihnen raus. Ich bin gleich wieder da.«
Sie verschwand durch eine Tür, und Sheppard fuhr mit den Fingern über die Einträge für Mira. Hier, aber doch nicht hier. »Fuck«, murmelte er und tigerte ruhelos durch den Empfangsraum, er betrachtete die ausgestellten Skulpturen, Kunstwerke, Fotos. Vor einer großen Fotocollage blieb er stehen. Erst erschien sie ihm wie eines dieser Bilder, mit denen die Wahrnehmung geprüft wurde, wo eine Form in der anderen versteckt ist. Die rechte Hirnhälfte sah das eine, die linke das andere, aber erst wenn beide Gehirnhälften gemeinsam arbeiteten, wurde das Bild klar. Und jetzt sah er alles: Jimi Hendrix, Grace Slick, Jerry Garcia, Jim Morrison, Peter, Paul and Mary, Andy Warhol. Unten im Rahmen befand sich ein Bild mit zwei Frauen, die vor einem VW mit einer psychedelischen Motorhaube standen. Es waren Janis Joplin und Mira, deren Gesicht über Janis’ Federboa ragte.
Wie viele Beweisstücke brauchst du noch?
»Agent Sheppard, ich …«
»Gina, wer hat diese Fotos gemacht?«
»Jake Romano. Ein wundervoller Mann, ganz außerordentlich. Er war immer ein guter Fotograf«, erklärte sie und trat neben Sheppard vor die Collage. »Aber er hatte erst so richtig Erfolg, als er begann, mit seinen Kontakten aus der Unterhaltungsindustrie zu arbeiten.«
Sheppard deutete auf Mira. »Das ist die Frau aus Hütte elf.«
Ihre Augenbrauen wanderten nach oben. »Wirklich? Wie faszinierend. Ihre Identität war hier immer die 64.000-Dollar-Frage. Ich habe Jake einmal gefragt, als er hier war, aber er hat bloß gezwinkert und gesagt, ich müsste es selbst herausbekommen.«
»Haben Sie eine aktuelle Adresse von ihm?«
»Aber sicher. Kommen Sie zurück zum Empfang, wir gehen die Rollkartei durch.«
Sie watschelte zurück an den Tresen und begann in der dicksten, abgenutztesten Rollkartei zu blättern, die Sheppard je gesehen hatte. Sie erreichte den Buchstaben R. »Okay, Jake Romano. Ich habe drei Telefonnummern. Keine mit einer Vorwahl in Südflorida. Aber heutzutage hat das ja nicht mehr viel zu bedeuten, oder? Ich schreib sie Ihnen auf.«
»Irgendwelche E-Mail-Adressen?«
»Nur über seine Website. Die schreibe ich auch auf. Ich habe außerdem ein Postfach in Asheville, North Carolina.« Sie schrieb, dann blätterte sie zu S. »Santos, okay, da ist sie. Ich habe Telefonnummern auf Tango, in Manhattan, Seattle und auf Jamaika.«
»Ich nehme alle. Und jede Form von Adresse, ob E-Mail oder anders.«
Sie lachte. »Ich habe mir schon gedacht, dass Sie das sagen.«
»Haben Sie irgendeine Ahnung, wo Lydia Santos um diese Zeit sein könnte?«
»Wahrscheinlich nicht hier. Ich würde vermuten: Seattle.« Sie beendete die Liste mit Nummern und reichte sie ihm.
»Danke, Gina, das ist sehr nett von Ihnen.«
»Kommen Sie ruhig wieder, wenn Sie noch etwas brauchen, Agent Sheppard.«
Kaum saß er in seinem Jetta und die Klimaanlage blies ihm ins
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