Die Spur der verlorenen Kinder
der Tür.
Als er ging, legte er seine Hand auf die Motorhaube des Mercedes, sie war noch warm. Er schaute hoch zum Fenster im ersten Stock und glaubte, jemanden zu sehen, der ihn aus einem Eckfenster beobachtete.
2
Lydia sah, wie der groß gewachsene Weiße mit den Fingern über die Motorhaube ihres Mercedes strich, und vermutete, dass er ahnte, dass jemand im Haus war. Sie duckte sich zurück ins Zimmer und eilte nach unten, sie war derart angespannt, dass sie spürte, wie ihr Herz schneller schlug, wie ihr Blut durch die Adern rauschte. Sie wusste, worum es ging, dass die Zeit gekommen war, sie wusste es, aber sie glaubte es noch nicht, bis sie schließlich die Tür einen Spalt öffnete und sich seinen Zettel schnappte.
Sie ging zurück in die Küche, setzte sich an den Tisch, strich mit den Fingern über den Zettel. »Nun falte ihn schon auf«, sagte sie sich gereizt.
Doch sie spürte, wenn sie erst mal diesen Zettel auseinanderfaltete, würde sie die Pandora-Büchse der Vergangenheit öffnen, und alles, das sie glaubte, hinter sich gelassen zu haben, würde herausspringen und in diese Zeit gelangen. Sie holte tief Atem und entfaltete die Notiz.
Am 12. Juni 1968 haben Sie eine Frau namens Mira Morales in Hütte elf der Künstlerkolonie eingecheckt. Ich muss mit Ihnen darüber reden. Bitte rufen Sie mich auf einer der unten genannten Nummern an. Es geht um die Entführung von fünf Kindern und einen Mann namens Patrick Wheaton. Vielen Dank.
Wayne Sheppard, FBI
Lydia presste ihre Fingerknöchel gegen ihre Augen. Jetzt beginnt es noch einmal und endet für immer. Sie griff nach ihrem schnurlosen Telefon und wählte eine Nummer. Der Mann am anderen Ende meldete sich nach dem dritten Klingeln.
»Es ist so weit, oder?«, sagte er ohne Vorrede.
»Ja. Ein FBI-Agent war hier, Rusty. Ich habe das Gefühl, als hätte ich ihn schon einmal getroffen.«
»Teufel, das hast du vielleicht auch. Wer weiß? Meine Erinnerungen ändern sich stündlich.«
»Meine auch.«
Sie sprachen über ihre Möglichkeiten. Sie stritten. Sie diskutierten. Und als sie schließlich auflegten, wusste sie, dass sie eine entscheidende Wendung in die Vergangenheit genommen hatten, und dass jetzt die Geschichte neu geschrieben wurde.
Einundzwanzig
Annie erwachte schweißnass, ihr Magen knurrte vor Hunger. Sie schwang die Beine von der Couch und setzte sich auf; sie fragte sich, wie lange sie geschlafen hatte, wie spät es war. Hatte sie wieder einen ganzen Tag verschlafen? Das war ein paarmal geschehen, und sie vermutete, dass Peter ihr etwas ins Essen tat, um sie zu betäuben. Doch wenn es immer noch der 26. Juni war, dann war heute niemand mit Essen gekommen. Kein Frühstück, kein Mittagessen, und so wie es aussah, brauchte sie auch nicht mit Abendbrot zu rechnen.
Sie ging hinüber ans Fenster und sah auf den Weg. Er sah aus wie der gewundene Pfad in einem Märchen, der in einem verwunschenen Wald verschwand. Sie schätzte, dass es etwa 18:30 Uhr war, obwohl der Wald das Licht schluckte, sodass es später aussah. Niemand war zu sehen. Ein leichtes Aufflackern von Angst begann sich in ihrer Brust zu regen. Vielleicht war Rusty tot, Peter geflohen, die Welt zu Ende gegangen. Oder vielleicht war das einfach nur wieder einer von Peters Tricks, um sie zu verunsichern und ihren Willen zu brechen. Nichts zu essen. Eine weitere kleine Gemeinheit. Wenn sie das nicht gefügig machte, was würde er als Nächstes versuchen? Kein Bad mehr? Kein Fernseher? Keine Musik, keine Bücher?
Sie drückte auf den Lichtschalter; kein Licht. Sie probierte es an den Lampen, da war es genauso. Sie lauschte nach dem Summen der Klimaanlage, konnte es nicht hören, und ihr wurde klar, dass er der ganzen Wohnung den Strom abgestellt hatte. Nichts zu essen – und jetzt würde er sie die Nacht über ohne Strom hier lassen, im Dunkeln, in der schwülen Hitze.
Zwei Wochen lang hatte Peter sich streng an seine Routine gehalten, als wäre sie seine Religion. Jetzt plötzlich war es anders. Was hatte das zu bedeuten? Nichts Gutes, fürchtete sie. Wenn er entschieden hatte, dass er sie doch nicht gebrauchen konnte, wollte er sie vielleicht einfach hier verhungern lassen. Sie hätte gern geglaubt, dass Rusty das nicht zulassen würde, doch sie hatte Rusty schon seit vier oder fünf Tagen nicht mehr gesehen. Sie hatte keine Ahnung, wo er war, was er trieb. Sie überlegte, ob Peter Rusty vielleicht umgebracht hatte. Je länger sie darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher
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