Die Spur der verlorenen Kinder
wohl beide das Gesetz gebrochen«, sagte er.
»Haben wir wohl.«
»Ich bin Ihnen dankbar, Mira. Ich werde mich an Ihren Rat halten.«
Er reichte ihr nicht die Hand. Er begriff, dass die Lesung zu Ende war, mehr würde sie nicht sehen. Sie wollte sich ihm unbedingt anvertrauen, sie wollte ihm alles erzählen, was geschehen war, seit Annie und sie nach Little Horse Key gefahren waren, sie wollte das Monster beschreiben, dass sich ihr als Peter vorgestellt hatte. Aber es würde wahrscheinlich Hunderte von Peters auf Tango Key geben, und vielleicht hatte das Monster auch sein Aussehen verändert, die Haarfarbe, und ihre Beschreibung würde auf keinen Peter zutreffen, den er kannte.
»Passen Sie auf sich auf, Mr Fontaine«.
Er folgte ihr bis zur Kreuzung und hupte dann einmal, als sie rechts abbog und er weiter geradeaus durch die Dunkelheit fuhr.
Zwanzig
Sheppard betrachtete den Zettel, den Nadine ihm gegeben hatte, als Beweisstück. Obwohl er eine Hypothese stützte, die eindeutig unmöglich war – Zeitreisen –, würde er nach weiteren passenden Hinweisen suchen. Wenn er welche fand, dann müsste er das Undenkbare nicht nur als möglich, sondern als wahrscheinlich ansehen. Der Ort, an dem er am ehesten entsprechende Hinweise fände, war die Künstlerkolonie, von der Mira Nadine gesagt hatte, dass sie dort wohnte.
Hütte elf, 16. Juni 1968.
Sheppards Wissen über die Künstlerkolonie stammte vor allem aus dem Newsletter, der einmal im Monat in Miras Buchladen ankam. Sie war unter der Maßgabe gegründet worden, dass künstlerische Fähigkeiten aller Art am besten in einer Umgebung blühten, in der Kreativität begrüßt wurde, statt als suspekt angesehen zu werden. Um hier zu leben, mussten die Künstler Arbeitsproben vorlegen, die dann von Kollegen bewertet wurden. Der Wettbewerb war groß, es gab 5000 oder 6000 Bewerbungen für nur etwa hundert Plätze im Jahr.
Wenn sie erst einmal akzeptiert waren, zahlten sie nur ein geringes Entgelt für eine Hütte oder eine Wohnung und waren berechtigt, an vielen Aktivitäten kostenlos teilzunehmen – Konzerte, Aufführungen, Workshops und Seminare von Künstlern aus verschiedenen Bereichen, die zu Besuch kamen. Außerdem konnten sie kostenfrei eine professionelle Beurteilung in Anspruch nehmen und hatten die Möglichkeit, ihre Arbeiten im Geschenkartikelladen und der Ausstellungshalle zu präsentieren und zu verkaufen.
Die Kolonie bediente auch das breite Publikum, und dadurch kam das meiste Geld herein. Es gab dort eines der besten vegetarischen Restaurants der Insel, einen beeindruckenden Geschenkartikelladen, und alle Veranstaltungen kosteten Eintritt. Darüber hinaus gab es ein zweimonatliches Magazin, das mit Anzeigen Gewinne einfuhr.
Von Gina, der Frau an der Rezeption, erfuhr Sheppard, dass in den Sechzigern, als die Kolonie gerade erst gegründet worden war, einige der Hütten im Sommer vermietet wurden, um etwas Geld einzunehmen. Als er fragte, ob er einmal die Registrierungen der Kolonie nach Vermietungen im Juni 1968 durchsehen konnte, fragte sie nicht, ob sie seine Marke sehen konnte. Sie glaubte ihm einfach, dass er beim FBI war.
Sie zog ein großes, staubiges Lederbuch heraus und legte es auf den Schreibtisch. »Das Ding ist nicht im besten Zustand. Wir werden es irgendwann einscannen müssen, aber im Augenblick ist das alles, was ich habe. Sie haben Juni 1968 gesagt, oder?«
»Ja.«
Gina blätterte die vergilbten Seiten vorsichtig um, ihre dicken Finger fuhren oben über jede Seite. »Damals waren sie nicht sonderlich gut organisiert«, bemerkte sie. »Leute, die hier wohnten, haben am Empfang für Kost und Logis gearbeitet. Aber wenn ich mich recht erinnere, war Ende der Sechziger Diego Muñoz der zuständige Bewohner, und er hat die Unterlagen wenigstens einigermaßen aktuell gehalten. Kennen Sie seine Arbeiten?«
Sheppard schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht.«
»Ein kubanischer Dichter. Recht bekannt in der Latino-Community.«
»Wie lange sind Sie schon hier, Gina?«
»Seit 1971.« Sie lachte. »Ewig. Okay, da sind wir. Juni 1968. Wie war ihr Name noch mal?«
»Mira Morales.«
»Da haben wir’s.« Sie lächelte und drehte ihm das Buch hin. »12. Juni.«
Sheppard starrte bloß auf die Seite, er sah das Unbegreifliche. Jede Vorstellung, die er von der Wirklichkeit gehabt hatte, und davon, was möglich oder unmöglich war, erledigte sich. »Mein Gott«, flüsterte er.
»Ist das ein Schock?«, fragte Gina.
»Es …« Er suchte nach
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