Die Spur der verlorenen Kinder
war. Vor einem Jahr waren sie und Shep für eine Woche nach Virgin Gorda geflogen, bloß sie zwei, und hatten an Stränden gezeltet, wo die Felsen groß waren und das Wasser unbeschreiblich blau war. In ihrer Zeit hätte das Wasser in der Bucht niemals diese Farbe. Es war zu schmutzig. Aber vielleicht gab es 1968 noch eine Chance, dachte sie, lehnte sich an einen Baum und sah zu, wie das Licht den Himmel eroberte.
Sie hörte Stimmen vom Waldrand her, andere Bewohner gingen spazieren, joggten, streckten sich vor ihrer Yogastunde auf dem Rasen. Sonnenaufgangs-Yoga nannte sich das in der Broschüre der Kolonie, eine Anlehnung an heidnische Rituale aus dem alten Indien.
»Mira?«
Sie sah sich um, Lydia kam zwischen den Pinien hindurch. Sie trug die Sechzigerversion von Sportklamotten, und ihr geflochtenes Haar war hinten hochgesteckt. »Hey, willst du dich verlaufen oder was?« Sie wischte sich Piniennadeln von ihren weißen Shorts, zog ihre Tennisschuhe aus, stellte sie sorgfältig auf den Boden und setzte sich auf sie. »Hast du schon Kaffee getrunken?«
»Bloß eine Tasse. Warum? Kochst du welchen?«
»Schätzchen, ich habe die besten kubanischen Kaffeebohnen außerhalb Havannas. Aber ich frage, weil ich glaube, dass du ziemlich guten Kaffee brauchen wirst, um in deinen Tag zu starten. Der Sheriff wartet vor deiner Hütte.«
»Sheriff Fontaine?«
»Genau der.«
Mira erhob sich und klopfte ihre Shorts ab. »Ziemlich früh für einen Freundschaftsbesuch.«
»Du kennst ihn?«
»Na ja. Ich habe neulich für ihn gelesen.«
»Für Fontaine? Er glaubt an so was?«
»Jetzt schon.«
»Dann gibt es wohl noch Hoffnung für den Mann. Wie auch immer, ich habe ihm gesagt, ich würde dich holen.«
»Wieso bist du so früh auf?«, fragte Mira.
»Ein Freund zieht heute in meine Hütte, und ich muss ein bisschen umräumen, um Platz für ihn zu schaffen.«
»Ein Freund-Freund?«
Lydia lachte. »Nein, zu jung. Er ist bloß jemand, der gerade Hilfe braucht.«
Als sie den Hauptweg erreichten, erhob sich plötzlich ein Schwarm wilder Papageien aus den Bäumen. Mira und Lydia schauten ihnen nach. Einer der Vögel löste sich aus dem Schwarm, segelte tief über den Weg und quäkte: »Hallo, hallo.« Dann flog Dusty auf, zurück zu seinen Freunden. Mira hatte das Gefühl, den Sittich zum letzten Mal gesehen zu haben, und fragte sich, ob das hieß, dass ihre Zeit hier dem Ende entgegenging. Wenn, dann bedeutete es zugleich, dass sie kurz davor stand, Annie zu finden, denn ohne sie würde sie nicht gehen.
Sie eilte zu ihrer Hütte, sie fragte sich, warum Fontaine hier war. Vielleicht hatte er herausbekommen, dass sie ihm einen falschen Nachnamen genannt hatte. Vielleicht wollte er bloß noch eine Lesung.
Er saß vor ihrer Hütte auf der Motorhaube seines Autos, rauchte eine Zigarette und lächelte, als er sie erblickte. »Tut mir leid, dass ich so früh auftauche«, sagte er, ließ die Zigarette fallen und trat sie aus. »Haben Sie ein paar Minuten?«
»Sicher, Joe. Was ist?«
»Nach dem, was Sie mir neulich nachts gesagt haben, habe ich mich, äh, gefragt, ob Sie jemals so was für die Polizei gemacht haben.«
Oh-oh. »Ja, habe ich. Ich mache das nicht gern, aber ich habe es schon getan.«
»Würden Sie das für mich tun?«
Ihr erster Impuls war, Nein zu sagen, vergessen Sie’s, auf keinen Fall. Aber sie hatte sich geschworen, zu akzeptieren, was ihr entgegenkam, egal, wie fern es den Gründen schien, aus denen sie hier war. Und noch etwas galt es zu bedenken: Fontaine war – zumindest – in irgendeiner Form bekannt mit dem Entführer ihrer Tochter.
»Worum geht es?«
»Einen Mord. Es war …«
»Mehr muss ich nicht wissen, Joe. Lassen Sie mich erst noch einen Becher Kaffee trinken.«
Er lächelte erleichtert. »Die Polizei zahlt natürlich für Ihre Zeit, Mira.«
Sie vermutete, die Bezahlung würde aus Fontaines eigener Tasche kommen, nicht von der Polizeibehörde. »Laden Sie mich zum Mittagessen ein, dann sind wir quitt.«
»Das ist ein Deal. Hey …« Er klopfte sich auf die Brust. »Ich halte mich an Ihren Rat. Ich habe die Weste an. Vorn und hinten.«
Mira schrieb einen Zettel für ihre Klienten, auf dem sie erklärte, dass alle Lesungen auf morgen verschoben wären, und zehn Minuten später stiegen Fontaine und sie auf dem Tango Airfield in einen Hubschrauber. Es waren nur sie beide und der Pilot, sie saßen in einem Helikopter, der bei Weitem nicht so groß war wie die Hubschrauber in ihrer Zeit und
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