Die Spur der verlorenen Kinder

Lebens, das Ross Blake einschloss, noch nicht gelebt.«
    »Es ist alles dieselbe Seele, Mr Sheppard, dasselbe Selbst, bloß in verschiedenen Zeitzonen. Die Erinnerungen funktionieren in beide Richtungen.«
    In diesem Moment landete das Flugzeug, und Sheppard stieg über die Rückenlehne nach hinten, um das Floß zu Wasser zu lassen.
    Blake half ihm mit den ökonomischen Bewegungen eines Mannes, der Effizienz gewohnt war und der das, was er tat, ordentlich und zielgerichtet machte. Als das Zodiac im Wasser lag, am Bug angebunden, schaltete Blake die Scheinwerfer des Floßes aus und eine der großen Sturmlaternen, die Sheppard bei sich hatte, ein.
    »Wenn Sie auf dem Feld sind, werden die nicht funktionieren. Nehmen Sie die Streichhölzer und Kerzen, die ich in Ihre Vorratskiste gepackt habe. Wir werden versuchen, über Handy Kontakt zu halten, bis auch das nicht mehr geht. Das GPS wird vermutlich auch nicht funktionieren.«
    »Sie sind nie weiter rein?«
    »Nein.«
    »Sind Sie nicht neugierig?«
    »Hey, einmal hat mir gereicht.«
    Das war nicht unbedingt das, was Sheppard jetzt gerade hören wollte. Er trat auf das Floß, und Blake reichte ihm die Kiste mit der Ausrüstung.
    »Wie spät ist es auf Ihrer Uhr?«, fragte Blake.
    »Zehn vor neun.«
    »Sie müssen über eine Stunde abwarten. Solange Sie auf dem schwarzen Wasser sind, können Dillards Leute Sie nicht sehen.«
    »Sie werden Ihr Flugzeug finden.«
    Blake grinste und reichte Sheppard die Laterne. »Sobald Sie losfahren, hebe ich ab.«
    »Vielen Dank für Ihre Hilfe.«
    »Sheppard?«
    »Ja?«
    »Schnappen Sie sich den Arsch.«
    Sheppard befestigte die Sturmlaterne und ließ den Motor an. Minuten später hörte er Blakes Wasserflugzeug abheben und fühlte sich plötzlich sehr allein.
    Und ängstlich.
    Um 21:26 Uhr begann der Motor zu stottern und starb ab, der Kompass drehte sich wie verrückt, und dann erlosch die Sturmlaterne.
    Er ließ den Kopf nach hinten sinken und schaute hoch. Reine Dunkelheit. Kein Stern zu sehen. Keine Sterne, keine Flugzeuge, kein Mond, bloß undurchdringliche Dunkelheit. Es war, als driftete er in einer schwarzen kosmischen Suppe zu Anbeginn aller Zeiten. Er holte die Streichhölzer hervor, dazu eines der Gläser mit einer Kerze, und entzündete sie. Die kleine Flamme beruhigte seine Nerven, bis ihm klar wurde, dass sie sich nicht bewegte. Sie stand einfach da, aufrecht, unbewegt. Wie die Luft.
    Reine Stille.
    Sheppard kippte den Motor aus dem Wasser, griff nach den Rudern und begann zu paddeln. Er fuhr ein wenig nach links, dann nach rechts, er testete den Kompass, aber der drehte sich bloß immer weiter. Und die Schwärze hörte nicht auf. Die Luft wurde drückend. Mit jedem Atemzug hatte Sheppard das Gefühl, als inhalierte er eine gallertartige Substanz, die sich in seinen Lungen sammelte, sie erfüllte. Sein Körper wurde schwerer, lethargischer. Er ruderte weiter.
    Und wenn das alles Quatsch ist?
    Der Kompass hörte plötzlich auf, sich zu drehen. Sein Kurs war jetzt 81W0508, 24N5008. Sheppard kippte den Motor zurück ins Wasser, und der sprang ohne Probleme an. Die Sturmlaterne leuchtete wieder, sie warf einen blassen Lichtschein auf das Floß und das schwarze Wasser direkt darum herum. Er probierte sein Handy, aber das war tot.
    Er fuhr langsam und steuerte das Floß ein wenig nach rechts, bis die Koordinaten beide auf 10 endeten. Er wusste nicht, was er erwarten sollte, stellte sich aber vor, wie das Floß plötzlich nach oben schoss und dann vorwärts oder seitwärts oder rückwärts, ungefähr wie das Auto in Zurück in die Zukunft. Das Floß schien gegen etwas zu stoßen, was sich anfühlte wie eine Mauer, ein Bereich unvorstellbar dichter Luft. Sheppard schaltete den Motor auf Leerlauf und streckte die Hände nach vorn. Er konnte die Dichtigkeit fühlen. Seine Finger sanken hinein wie in eine Wand aus Schaum. Sheppard schaltete den Motor auf Vollgas, und das Boot schoss nach vorn, es drückte sich gegen die Dichte.
    In seinen Ohren begann es zu klingeln.
    Es war lästig, aber nicht schmerzhaft, bis das Klingeln plötzlich schriller wurde und vom Scheitel seines Schädels bis zu seinen Füßen zu schießen schien, immer und immer wieder, es erzeugte einen vibrierenden Kokon aus Klang um seinen gesamten Körper. Und dann krümmte er sich plötzlich auf den Boden des Floßes, er rang nach Atem, sein Kopf explodierte, sein Hirn stand in Flammen.
    Das war seine letzte Wahrnehmung, bevor er das Bewusstsein