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Die Spur der verlorenen Kinder

Die Spur der verlorenen Kinder

Titel: Die Spur der verlorenen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.J. MacGregor
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leben, weil er über die Spielzeuge der Zukunft verfügte. Die PCs, Videorekorder, DVDs, CDs. Akronym-Technologie. Er stahl auch andere Dinge aus der Zukunft, Advil und Antibiotika, die 1968 noch nicht erfunden gewesen waren. Und Menschen. Kinder. Er stahl Kinder.
    Annie drückte die Augen zu und lehnte ihre Stirn an das unversehrte Glas. Sie war so erschöpft, hungrig, verängstigt, wütend, frustriert, verzweifelt und jedes andere Adjektiv, das ihr einfiel, dass sie noch nicht einmal mehr weinen konnte. Dann hörte sie es, ein Klang wie Heuschrecken im Wind. Ihre Augen öffneten sich, und sie versuchte, durch das glatte, aber dreckige Glas zu schauen, durch die sternlose Nacht, durch die Wand aus Bäumen hindurch. Ein Lichtstrahl huschte über das Fenster, und sie sah Rusty. Ihre Handfläche traf auf das Glas – und seine ebenfalls.
    »Annie?«
    »Rusty.« Das Wort entfloh ihr.
    Er drückte seine Hände auf der anderen Seite der Scheibe genau dorthin, wo ihre Hände lagen. Sie spürte die Hitze seiner Hände durch das Glas durchsickern und in ihre Handflächen hineinsickern. Sie spürte seine Trauer, seine Tragödie, seine Entschuldigung.
    »Ich hole dich da raus«, sagte er.

3
    Ein Traum weckte Lydia, sie träumte von den weißen Männern, die ihren Großpapa hinaus auf die Lichtung im Wald zerrten. Er war so echt und lebendig, dass ihr Herz raste, ihr Laken war um ihre Füße gewickelt, ihr feuchtes T-Shirt klebte an ihrem Körper.
    Sie setzte sich auf und sah ein paar von Rustys Sachen in der Ecke ihrer Hütte, Sachen, die er Stück für Stück hergebracht hatte. Der kleine Computer, CDs, DVDs, ein Videorekorder, was immer das war, und noch mehr fremde Gegenstände aus der Zukunft waren in ihrem Schrank verborgen. Doch das Sofa, das sie am Abend für ihn bezogen hatte, war leer. Lydia sprang aus dem Bett und lief zum Fenster. Als sie zu Bett gegangen war, hatte sein Wagen neben ihrem gestanden. Jetzt war sein Wagen weg, und sie wusste, was das hieß. Sie wusste, dass er zurück zu Pete gegangen war, um Annie zu befreien, was sie eigentlich heute Morgen um fünf zusammen hatten tun wollen.
    »Verdammter Idiot.«
    Sie zog sich schnell dunkle Sachen an, suchte ihre Schlüssel, ihre Taschenlampe, ging zur Tür. Sie wünschte, sie hätte eine Waffe. Sie wusste, dass es ein Gewehr im Büro der Kolonie gab, aber das Büro war um diese Zeit geschlossen, und Diego – der einen Schlüssel hatte – schlief wahrscheinlich wieder mal bei einer seiner Freundinnen. Also keine Waffe.
    Die Nacht war warm und windig, es roch nach Regen. Wolken huschten am Mond vorbei und begannen, die Sterne zu verschlucken. Donner rumpelte in der Ferne, ein Sturm kam über den Golf. Sie stieg ein, steckte den Schlüssel in die Zündung, drehte ihn. Klick.
    »Komm schon, komm schon, du beschissene Karre.« Sie drehte den Schlüssel wieder und wieder. Klick. Klick.
    Batterie leer, Zündkerzen kaputt, was zum Teufel verstand sie schon davon? Sie war schließlich keine Mechanikerin. Sie stieg aus und lief hinüber zum nächsten Elektrowagen, der an einer der Außensteckdosen lud. Sie suchte darin nach dem Schlüssel. Viele Bewohner nahmen die Schlüssel nicht mit in ihre Hütte. Sie legten sie unter die Fußmatten oder ins Handschuhfach oder unter die Sitze. Sie suchte, konnte aber keinen Schlüssel finden. Sie durchsuchte zwei weitere Wagen, hatte aber kein Glück. Da sie nun schon nah am Büro war, ging sie zur Eingangstür. Sie hoffte, dass der Letzte vergessen hatte abzuschließen, doch die Tür war gesichert wie auf einer Militärbasis.
    »Hoffentlich bist du zu Hause, Diego«, murmelte sie und ging zügig den Weg entlang.

4
    Ein lautes Donnern war Sheppards erste Wahrnehmung. Offensichtlich war er nicht tot. Sekunden später brannte sich ein Blitz durch seine Lider, seine Augen flogen auf, und er sah noch einen gezackten Riss im Himmel. Er taumelte vom Floß herunter und zog es über den Sand, der Wind in seinem Rücken schob ihn vorwärts. Er taumelte, als wäre er betrunken. Sein Kopf fühlte sich an wie mit Stroh ausgestopft, sein Hals war knochentrocken, seine Bewegungen waren ruckartig, kantig, wie die einer Marionette.
    Erneut zuckte ein Blitz durch die Dunkelheit, Sekunden später gefolgt von einem Donnerschlag, der über das Wasser rollte, die Stimme eines wütenden Gottes. Er wusste, dass er vom Strand verschwinden musste, bevor der Blitz ihn traf, und ließ sich im Sand neben Dünen voll mit hochgewachsenem Strandhafer auf die

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