Die Spur der verlorenen Kinder
den Händen auf und säuberte die Bisswunde und die Schrammen. Nicht gut genug. Später würde er antibiotische Creme auftragen.
Rusty, der Hund und Lydia stürmten Augenblicke später in den Schuppen. Sie war eine große, beeindruckende, kräftig gebaute Frau, deren Haut die Farbe von Bitterschokolade hatte. Ihre schwarzen Johannisbeeraugen sahen sich im Raum um, konzentrierten sich gleich auf das Mädchen. Der Blick, den sie Wheaton zuwarf, hätte Glas schneiden können. »Mein Gott, Pete. Du hast diesen Scheiß schon wieder gemacht. Wie alt ist sie?«
»Dreizehn«, entgegnete er. »Sie ist so krank seit …«
»Halt die Klappe und verschwinde. Alle beide. Lasst den Hund hier. Und macht die Tür hinter euch zu.«
»Kannst du ihr helfen?«, fragte Wheaton besorgt.
»Du weißt, dass ich tue, was ich kann. Aber ich kann nichts versprechen. Ich komme ins Haus, wenn ich fertig bin, und es wird sicher spät werden.«
Wheaton und Rusty gingen, die Strahlen ihrer Taschenlampen konnten gegen die Dunkelheit kaum etwas ausrichten. Wheatons Eingeweide rebellierten, sein Magen brannte, er hatte Kopfschmerzen bekommen. Er wollte unbedingt bleiben und zusehen, er wollte helfen, wenn er konnte. Aber in all den Jahren hatte Lydia ihn nie gebeten, ihr in irgendeiner Weise zur Seite zu stehen. Ihre Heilmethoden blieben geheim, ein so unergründliches Mysterium, dass schon der Versuch, es zu durchdringen, einen Bruch ihrer zerbrechlichen, unausgesprochenen Vereinbarung dargestellt hätte.
»Pete?«
»Ja?«
»Schafft sie’s?«, fragte Rusty.
»Ich glaube, sie hat eine gute Chance.«
Rusty nickte, den Blick auf den steinigen Weg gerichtet. »Sie kommt besser durch. Sonst ist es deine Schuld, Pete.« Er steckte die Hände in die Taschen seiner Shorts und eilte Wheaton voraus.
Wheaton starrte Rustys Rücken an. Ein breiter Rücken. Muskulöse Arme. In den sechs Jahren, seit Wheaton ihn durch den Korridor geholt hatte, war sein Haar länger und dunkler geworden, und seine täglichen Trainingseinheiten im Fitnesscenter hatten seinen schlanken Körper in eine Landschaft aus Muskeln und Sehnen verwandelt. Im Herbst würde er auf die University of Miami gehen, eine Chance, die seine eigene dysfunktionale Familie ihm nie gegeben hätte.
Es sorgte ihn, dass Rusty sich jetzt gegen ihn stellte, manchmal weigerte er sich sogar zu tun, was er von ihm verlangte. Wheaton konnte ihm nicht mehr drohen. Er musste einfach abwarten, wohin das führte, und immerhin war da jetzt dieses Mädchen.
Plötzlich wich er von dem Weg ab und trat zwischen die Pinien, in einem weiten Bogen ging er zurück hinter den Schuppen, gefährlich nah an die Stelle, wo das Land dreißig Meter tief abbrach. Die Wellen brandeten gegen das felsige Ufer, er konnte ihr Schlagen hören, bevor er die kleine Lichtung erreichte. Ein milchiges Licht drang durch die dicht stehenden Pinien, es enthüllte den unebenen Grund, wo er die anderen Kinder begraben hatte, diejenigen, die die Reise durch den Korridor nicht überlebt hatten. Dort, eine Reihe lila Blüten markierten ihr Grab, lag Becky Sawyer, eine hübsche Blondine von Key Largo, die elf gewesen war, als er sie mitnahm. Und da drüben, mit Begonien auf dem Grab, lag Antonio Pantello, ein neun Jahre alter Latino-Junge von Tango Key. Und hier, zwischen ihnen, das Grab bedeckt mit Japanischer Scheinmyrthe, lag Morgan Washington, ein afroamerikanischer Junge aus Miami, der zwölf gewesen war, als Wheaton ihn holte. Zwei Elfjährige, ein Neunjähriger, ein Zwölfjähriger, und jetzt ein dreizehnjähriges Mädchen. Er hatte es mit verschiedenen Altersgruppen versucht, verschiedenen Rassen, verschiedenen Nationalitäten. Vielleicht hing am Ende alles nur vom Genpool ab, wessen Erbmasse eben den Gefahren des Korridors am besten standhalten konnte.
1994, als er das Feld schwarzen Wassers untersuchte, das sich vor der Küste von Big Pine Key geformt hatte, lockte ihn eine Lederschildkröte in einen Bereich vollkommener Schwärze – er wusste jetzt, dass es sich um den Korridor handelte. Der Motor seines Bootes war verreckt, sein Kompass hatte durchgedreht, seine gesamten Navigationsinstrumente versagten, sein Funkgerät ebenso. Die Schwärze, in die er sich begeben hatte, war so umfassend, dass selbst der Mond und die Sterne sie nicht durchdrungen hatten.
Noch heute konnte er die drückende Luft spüren, er konnte fühlen, wie sie gegen seinen Mund und seine Nase presste. Er konnte das schreckliche Gewicht auf seiner Brust
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