Die Spur der verlorenen Kinder
davongegangen, drehte Wheaton dem Kanal den Rücken, wehrte sich gegen den fast überwältigenden Drang, zurückzuschauen und einen letzten Blick auf das Haus zu werfen. Er wusste, er würde die Lichter hinter den Fenstern oben angehen sehen, vielleicht konnte er sogar ihren Schatten ausmachen, wenn sie hinter den Jalousien vorbeiging.
Geh schneller, sieh nicht zurück …
Er wusste, dass ihre Eltern nicht zu Hause waren, dass sie allein daheim war, entweder hörte sie Musik oder sie telefonierte mit diesem Wichser Billy Macon. Er wusste, dass er zum Haus gehen, klingeln und sie jetzt mitnehmen konnte.
Aber das Timing stimmte nicht.
In den Wagen. Zurücksetzen. Nichts wie weg hier.
Augenblicke später verließ er die Sugarloaf Key Marina, holperte über die Holzbrücke und stoppte nicht, bevor er die Fähre nach Key West erreicht hatte.
2
Brad Pitt war zurück, er kümmerte sich um sie, er machte es ihr gemütlich, er leistete ihr Gesellschaft und redete mit ihr.
»Weißt du, mein Alter Herr war verrückt und meine Mutter auch schon fast, Pete hat mir also im Grunde einen Gefallen getan, indem er mich da rausholte. Das darf ich nie vergessen. Ich schulde ihm etwas, weißt du, was ich meine? Ich empfinde ihm gegenüber eine gewisse Loyalität, und er hat mich in diesen sechs Jahren echt gut behandelt. Er hat mir einen Wagen gekauft, kaum dass ich fünfzehn wurde, und er bringt mir immer Sachen mit, wenn er durch den Korridor zurückkommt. Musik, Videobänder, meinen Computer … Aber er bringt bloß mit, was er für mich gut findet, verstehst du? Er ist ein Kontrollfetischist. Und weil es vor ein paar Jahren einmal ziemlich eng wurde, muss ich, äh, alles verstecken. Also, jetzt wo ich darüber nachdenke, er will eigentlich alles kontrollieren. Aber es stört mich jetzt nicht mehr so, weil ich nicht mehr so viel hier bin. Ich habe ein paar Freunde in der Stadt, bei denen bin ich meistens. Ich erzähle ihnen allerdings nicht viel. Das kann ich nicht riskieren.«
»Aber jetzt bist du hier«, sagte sie.
»Wie war das?«
Er beugte sich vor, und ihr wurde klar, dass sie entweder nichts gesagt oder nicht deutlich und laut genug gesprochen hatte. Aber es wurde immer schwieriger, ihre Zunge zu beherrschen. »Jetzt bist du hier.«
»Ja. Du brauchst jemand hier mehr, als er bei dir sein will. Ich kann dich nicht einfach … ganz allein lassen. Du bist ein Kämpfer, wie ich, und ich glaube, ich kann deinen Kampf leichter machen, indem ich dir Gesellschaft leiste. Hier, nimm einen Bissen. Ein Stückchen gekühlte Mango.«
Er hielt sie ihr vor die Lippen, und Annie lutschte daran wie an einem Eiswürfel, dann knabberte sie und lutschte noch etwas. »Gut«, murmelte sie.
»Lydia sagt, es wäre eines der besten Lebensmittel. Ich verstehe davon nichts, aber das war etwas, was sie mir gegeben hat, um mir durch die Krankheit zu helfen.«
»Wie heißt die Krankheit?«
»Ich weiß nicht, ob sie einen Namen hat.«
»Erzähl mir von deinem Leben«, sagte sie, und also tat er das. Seine Stimme wirkte auf sie wie beruhigende Musik. Aber das Leben, das er beschrieb, klang überhaupt nicht nach dem, was sie über Brad Pitts Leben wusste. Es klang wie ein Albtraum – chaotisch, gequält, ein Leben, in dem alle paar Monate Sozialarbeiter oder Bullen oder beide zugleich auftauchten.
»All das hat sich geändert, seit ich hergekommen bin. Pete und ich haben in den ersten paar Jahren eine Menge zusammen gemacht. Er hat mir beigebracht, zu angeln und Auto zu fahren, und als er seinen Pilotenschein gemacht hat, sind wir nach Miami zum Abendessen geflogen, oder rüber an die Westküste Floridas, wir haben uns da ein Hausboot gemietet. Solche Sachen. Er hat echt versucht, ein Vater für mich zu sein. Aber als er dann immer öfter durch den Korridor verschwand und immer wieder Kinder mitbrachte … ich weiß auch nicht. Es hat sich alles geändert. Seit es einmal so eng wurde, habe ich vorgehabt abzuhauen, sobald ich achtzehn werde.«
»Kinder? Wo sind die Kinder?« Der Hund begann, ihre Hände und ihr Gesicht zu lecken, und sprang dann neben sie aufs Sofa. »Brad?«
»Noch hier.«
»Mir ist schlecht.«
Er half ihr, sich aufzurichten, und sie öffnete die Augen, aber ihr drehte sich alles, und sie kotzte und würgte und spuckte und hatte das Gefühl, als würde sie ihren halben Magen erbrechen. »Ich brauche einen Arzt«, flüsterte sie.
»Du …« Er unterbrach sich. »Gott«, zischte er. »Annie, ich bin gleich zurück. Rühr
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