Die Spur des Blutes (German Edition)
herangeschlendert. Sie blinzelte, um sich zu fassen, das Gesicht von ihm abgewandt. Seinem Verhaltensmuster entsprach es nun mal, überfürsorglich zu sein, selbst wenn es keinerlei Notwendigkeit dafür gab. Auch jetzt zeigte er wieder alle ärgerlichen Anzeichen. Nun durfte sie sich nicht den Hauch von Unsicherheit anmerken lassen.
Ihr war nicht entgangen, wie die Chiefs der anderen Abteilungen sie heute Nachmittag beäugt hatten. Die Neuigkeit war noch nicht raus, aber der Klatsch hatte sich bereits verselbstständigt. Das war eine normale menschliche Reaktion. Eine in Ungnade gefallene FBI-Agentin kommt in die Stadt geschneit und nimmt den Platz ein, den eigentlich einer ihrer eigenen Leute verdient hätte – nämlich der Leute, die schon lange zum BPD gehörten.
Oh, und nicht zu vergessen das Etikett der ehemaligen Liebhaberin. In der Highschool und im College waren sie und Burnett ein Paar gewesen. Da Jess der einzige weibliche Deputy Chief war, hatte sie den Job zweifellos bekommen, weil sie mit dem Boss schlief. Ganz egal, ob es zehn Jahre her war, dass sie dieser Schwäche nachgegeben hatten.
Dass sie geholfen hatte, diese Mädchen zu finden, hatte ihr zumindest Sheriff Griggs’ Respekt eingebracht. Andererseits würden er und die anderen höchstwahrscheinlich denken, dass sie
hierfür
verantwortlich war.
Und das war sie ja auch.
Schuldbewusstsein und Angst schlossen sich enger um sie, trennten sie von allen anderen um sie herum, auch wenn sie sich nichts anmerken ließ.
Der Spieler holte sich erst dann ein weiteres Opfer, wenn er mit dem einen fertig war.
Vierundzwanzig Stunden. Diese kalte, harte Realität echote in ihrem Kopf. Das war in etwa die Zeit, die Lori Wells noch zum Leben blieb.
»Vierundzwanzig Stunden?«
Burnetts Frage ließ Jess zusammenschrecken. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie laut gedacht hatte. Was ihr erneut vor Augen führte, wie leicht sie sich in letzter Zeit ablenken ließ.
»Schon gut.«
Vielleicht änderte er ja auch in dieser Hinsicht sein Muster.
Wenn sie ihn nicht bald fanden – und das würden sie nicht, es sei denn, er
wollte
gefunden werden –, dann war eine Abweichung von seinem gut dokumentierten Tatmuster Detective Wells’ einzige Hoffnung.
»Dieser Tatort ist nicht typisch für ihn, oder?«
Jess riss sich zusammen. Ihre Stimme musste ruhig sein, wenn sie antwortete. Er brauchte nur einen Vorwand, um sie zu ihrem eigenen Schutz von dem Fall abzuziehen.
»Ganz und gar nicht.«
Mach, dass deine Stimme aufhört zu zittern, Jess
. »Normalerweise gibt es keinerlei Hinweise darauf, dass etwas Ungeplantes geschehen ist. Ganz sicher keine Spuren, welcher Art auch immer.« Nur mit Mühe verdrängte sie das Bild des Blutes auf dem Boden und an der Wand und konzentrierte sich auf das, was sie für Lori tun konnte – Lori, verdammt.
Nicht Detective Wells. Lori Wells. Eine Freundin, die sie besser kennenlernen, mit der sie Gemeinsames erleben wollte. Es war lange her, dass Jess sich die Mühe gemacht hatte, Freundschaften zu schließen.
Verfluchter Spears
.
Burnett wartete darauf, dass sie fortfuhr. Er suchte wohl nach einer Schwäche, die bewies, dass er mit seiner Befürchtung, sie wäre nicht in der Lage, mit ihrer persönlichen Betroffenheit in dieser Ermittlung umzugehen, recht hatte.
Nimm dich zusammen, Jess
.
»Er sediert seine Opfer, damit sie kooperieren. Mit Ketamin – das haben wir bei seinen letzten Opfern entdeckt. Wenn die Dosis stimmt, wirkt es injiziert schnell und hält nicht zu lange an. Das verschafft ihm die Zeit, die er braucht.«
»Ist sie – Belinda Howard – ist sie am Leben?« Die Hoffnung in seiner Stimme schaffte es nicht bis zu seinen Augen. »So viel Blut ist das nicht da drinnen.«
»Gewöhnlich tötet er nicht am Ort der Entführung.« Jess hätte fast gelacht. »Aber so, wie sich sein Tatmuster ändert, kann ich weder das eine noch andere mit Sicherheit sagen. Im Moment muss ich annehmen, dass es davon abhängt, ob er Verwendung für sie hat. Er –«, sie tat einen tiefen Atemzug, um sich zu beruhigen, »– hat sie vermutlich mit dem Ketamin ruhiggestellt, ihr einen Schnitt zugefügt und mit dem Blut seine Nachricht hinterlassen.«
Nur um Jess’ Aufmerksamkeit zu bekommen. Das Opfer war nicht einmal sein Typ. Das widersprach jeder Logik, es sei denn, sie ließ das Profil, das sie in über fünf Jahren intensiver Studien erstellt hatte, außer Acht und gestand sich ein, dass er dieses Mal alles, was er tat, wegen
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