Die Spur des Blutes (German Edition)
einen Zwilling oder so, dann wurde deren Geburt nie im Zusammenhang mit seiner Familie dokumentiert.«
Er hatte das Gefühl, als würde sie eine Antwort von ihm erwarten. Aber wahrscheinlich analysierte sie nur.
»Lass uns trotzdem … mal annehmen, dass es eine geschlossene Adoption oder so etwas war, dann wäre es ja denkbar, dass ein Bruder ihm so ähnlich sieht. So wie bei Lily und mir. Aber warum haben wir gar nichts gefunden?«
Selbst heute noch wurden Babys geboren, die dann verkauft oder weggegeben wurden, ohne ein offizielles Dokument. Das war also durchaus möglich. »Was ist mit Option Nummer zwei?«, fragte Dan und lehnte sich gegen den Tisch.
»Option Nummer zwei ist die, die ich komplizierter finde und die etwas mehr Fantasie verlangt. Unser Nachahmer ist vielleicht ein Schüler des echten Spears oder ist es gewesen. Die anonyme Quelle, die mich mit neuen Beweismitteln gelockt hat, als wir letzten Monat Spears in der Zange hatten, wäre ein idealer Kandidat. Während seiner Lehrzeit hat er möglicherweise sein Erscheinungsbild mit Haarfärbemittel, farbigen Kontaktlinsen oder sogar plastischer Chirurgie geändert, um wie Spears auszusehen. Vielleicht auf Spears’ Befehl hin, vielleicht auch nicht. Was immer der Grund war, jemand, der bereit ist, so weit zu gehen, ist ein sehr krankes Individuum.«
»Ich denke, das ist hier wohl der Fall.« Dan gelang es nicht, das, was er über Motive wusste, mit dem zusammenzubringen, was heute passiert war. »Dieser Spears-Nachahmer stürmt einfach so in eine Klinik voller Leute und verschleppt mit vorgehaltener Waffe eine Bundesbeamtin. So eine Aktion wäre nicht so schwierig einzuordnen, wenn es um das Übliche ginge – Geld oder Rache –, aber soweit wir wissen, trifft das beides nicht zu. Hier geht es um eine Fixierung auf dich. Um deine Aufmerksamkeit zu erregen oder die Bühne zu bereiten für einen größeren Schlag, der etwas mit dir zu tun hat.«
Jess kaute an ihrer Unterlippe und überlegte. »Jemand, der bereit ist, solche extremen Maßnahmen zu ergreifen, würde den echten Spears bewundern. Er will wie er sein oder sich in seiner Gunst sonnen. Oder vielleicht will er sein Leben. Aus Bewunderung wurde vielleicht Neid, und Spears hat ihn abgewiesen und damit seinen Wahn ausgelöst.«
»Und wie passt du dann in dieses Szenario?«
Ihre Schultern hoben und senkten sich. »Keine Ahnung. Logischerweise würde ich annehmen, dass ich für einen oder beide nach den Ereignissen in Richmond zur Zielscheibe wurde. Der echte Spears, der, den ich im Rahmen der Ermittlungen befragt habe, hat möglicherweise Aussagen gemacht, die seinen Schüler dazu gebracht haben, mich auszusuchen, um die Gunst seines Mentors zu gewinnen. Andererseits, wenn das Motiv unseres Täters Neid ist, könnte er auch verstanden haben, wie fasziniert Spears von mir war, und etwas beweisen wollen.«
Sie schien einen Moment darüber nachzudenken, bevor sie ihm ihren nächsten Gedanken mitteilte. »Was immer sein Motiv ist, ich bin hier nicht die Einzige, die verzweifelt ist. Dieser Mann spürt den gleichen Druck. Das würde jedenfalls seine planlose Vorgehensweise erklären.«
Die Art, wie sie ihre Sicht der Fakten konstatierte, machte ihm eine Höllenangst. »Bei dir klingt das alles so nüchtern.« Eigentlich hatte er sich nicht ärgerlich anhören wollen. Er war nicht böse auf sie, doch in ihrer Stimme meinte er etwas wahrzunehmen, was darauf hindeutete, dass sie sich noch weiter in Gefahr zu bringen gedachte. »Das ist keine Schachpartie, Jess. Wir sprechen hier von deinem Leben und dem Leben von mindestens zwei weiteren Personen. Diese beiden Männer sind ganz offensichtlich geistesgestört. Für sie mag das ein Spiel sein, doch das ist es nicht.«
Sie warf den Stift auf den Tisch. »Wenn ich schon für den Teil dieses Falles, der mich persönlich betrifft, meine Gefühle nicht außer Acht lassen kann, wie soll ich das deiner Meinung nach erst tun, wenn ich mir Loris Situation vorstelle oder die von Miller? Tu nicht so, als wäre es etwas anderes, weil es um mich geht. Die Fakten und Theorien müssen mit wenigstens ein bisschen Objektivität untersucht werden. Meine Güte.« Sie nahm wieder ihren Stift auf und konzentrierte sich auf ihre Notizen, eine klare Warnung, dass sie mit dem Thema durch war.
»Ich brauche noch ein Bier.«
Das ungeöffnete, das er ihr mitgebracht hatte, auf dem Tisch lassend, schob er seinen Stuhl zurück. Wenn er jetzt nicht ging, würde er zu viel
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