Die Spur des Verraeters
gegenüber seinen Soldaten, seinen zivilen Mitarbeitern und den Holländern. Natürlich wusste Sano, dass gerissene Untergebene vor den unaufmerksamen Augen ihrer Vorgesetzten mitunter ungesetzliche, ja verbrecherische Dinge taten, doch er glaubte nicht, dass Ohira, der einen intelligenten und tüchtigen Eindruck machte, vollkommen nichts ahnend gewesen war, was die Geschehnisse auf Deshima betraf.
Sano packte die Hand Ohiras fester. Die knochigen Finger des Kommandanten waren schwach, doch diese körperliche Schwäche wurde von seiner wilden Entschlossenheit wettgemacht, sodass Sano alle Mühe hatte, Ohira daran zu hindern, doch noch zum Schwert zu greifen.
»Wo wart Ihr, als Jan Spaen verschwand?«, fragte Sano.
Immer noch versuchte Ohira, sich loszureißen und sein Schwert zu ziehen. »Lasst meine Hand los, und kämpft wie ein Samurai!«, rief er.
Blitzschnell packte Sano auch die Linke Ohiras, bevor der Kommandant sein Kurzschwert ziehen konnte. »Hatte Pfingstrose irgendetwas gesehen, das sie zu einer Gefahr für Euch machte?« Sano stieß Ohira mit dem Rücken gegen die Wand. Wider Willen genoss er es, seinem Zorn auf diese Weise ein wenig Luft machen zu können. Er hatte es so satt , von seinen Landsleuten in Nagasaki belogen, betrogen und verraten zu werden. Sie waren nicht besser als die Barbaren, mit denen sie sich bei ihren schmutzigen Geschäften zusammengetan hatten, obwohl sie diese Ausländer verachteten. »Habt Ihr die Frau getötet?«
»Pfingstrose hat Selbstmord begangen!«, stieß Ohira hervor, sodass Sano der übel riechende Atem des Kommandanten ins Gesicht schlug. »Niemals bin ich auch nur in die Nähe dieses abscheulichen Vergnügungsviertels gekommen!«
»Habt Ihr den Wächtern auf Deshima befohlen, mich zu erschießen? Wo wart Ihr gestern Abend?«
»Verräter! Feigling! Habt Ihr Angst, ohne die Hilfe Eurer Barbarenfreunde zu kämpfen?«
Diese schwere Beleidigung hätte Sano beinahe dazu verleitet, die Hände Ohiras loszulassen und sein Schwert zu ziehen, um sich zum Kampf zu stellen. Der Griff seiner Finger lockerte sich bereits, als er plötzlich den triumphierenden Ausdruck in den Augen Ohiras sah. Sano erkannte, dass der Kommandant bei einem Zweikampf sterben wollte , damit sein Schmerz und seine Trauer ein Ende fanden. Doch wenn Sano einen seiner Ankläger tötete, würde man ihn wegen Mordes auf der Stelle ins Gefängnis werfen, sodass er keine Gelegenheit mehr hatte, Hirata und sich selbst zu entlasten und dafür zu sorgen, dass die wahren Schuldigen bestraft wurden.
Sano zog Ohiras Schwerter aus den Scheiden und schleuderte die Waffen durchs Zimmer; dann stieß er den Kommandanten zu Boden. »Antwortet!«, rief er und kämpfte seinen Zorn nieder. Nur noch ein Tag, bis das Ultimatum des holländischen Kapitäns ablief! Nur noch zwei Tage, die er, Sano, in Freiheit verbringen durfte! Er durfte sich nicht zu Dummheiten hinreißen lassen.
Ohira war so schwer zu Boden geschlagen, dass er Schmerzen haben musste, doch als er sich aufrappelte, war sein Gesicht wieder wie eingefroren und zeigte keinerlei Regung, weder Schmerz noch Wut noch Trauer. »Als der Barbar verschwand, war ich in meiner Schreibstube auf Deshima. Auch an dem Tag, als die Kurtisane Selbstmord beging. Meine Untergebenen können es bezeugen. Und ich kann Euch versichern, dass ich nicht den Befehl erteilt habe, Euch zu erschießen.«
Die Vorhänge am Eingang wurden zur Seite geschoben. Hauptmann Nirin, der Befehlshaber der zweiten Wachmannschaft, kam in den Verhandlungssaal. »Ehrenwerter Kommandant«, sagte Nirin, »ich muss mit Euch reden.« Er schien gar nicht zu bemerken, dass sein Vorgesetzter nicht allein war; in dem großen Raum herrschte schummriges Licht; außerdem stand Ohira zwischen Sano und der Tür. »Auf Grund der Geschehnisse von gestern Abend hat sich alles geändert«, fuhr Nirin fort, »und ich brauche neue Befehle für …«
»Seht Ihr nicht, dass ich zu tun habe?«, fuhr Ohira ihn an. »Hinaus!«
Hauptmann Nirin bemerkte Sano und runzelte die Stirn. Dann sagte er: »Verzeiht, dass ich Euch störe, aber die Sache duldet keinen Aufschub. Wir müssen die Sicherheitsvorkehrungen auf Deshima in den Nächten verstärken, um weiteren Diebstählen vorzubeugen. Ich brauche Eure Genehmigung, zusätzliche Wachen an den Lagerhäusern zu postieren.« Nirins Hand berührte den Griff seines Schwertes. »Macht der sôsakan-sama Euch irgendwelche Schwierigkeiten?«
»Ich wollte gerade gehen«, sagte
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