Die Spur des Verraeters
erstaunt. Auf Deshima verstießen sowohl die Holländer als auch die japanische Wachmannschaft häufig gegen die Vorschriften. Huygens musste es wissen; schließlich beherrschte er die japanische Sprache, hatte insgeheim mit dem holländisch-japanischen Untergrund zusammengearbeitet und verbotene Reisen aufs Festland unternommen …
Huygens kämpfte eine aufkeimende Panik nieder, als Nirin ihn durch den Nieselregen und die schummrigen Straßen führte, in denen doppelt so viele Wachsoldaten wie üblich patrouillierten. Auf dem Festland sah er rote Flaggen auf den Hügelkuppen. Offenbar lagen Japan und Holland tatsächlich im Krieg. Huygens ließ sich noch einmal durch den Kopf gehen, wovon er Sano überzeugen musste, hämmerte es sich ein: Ich habe Jan Spaen nicht ermordet . Ich weiß nichts von irgendwelchen Schmuggelgeschäften . Ich bin nicht der Feind ; ich bin unschuldig !
Sie erreichten das Gebäude, in dem sich Huygens’ Behandlungszimmer befanden. Nirin öffnete die Tür, schob den Arzt hindurch und befahl: »Du musst ihn retten, Barbar!«
Nicht Sano befand sich in dem Zimmer, sondern vier Wachsoldaten und ein verängstigt dreinblickender junger Dolmetscher. Huygens durchströmte ein Gefühl der Erleichterung. Dann aber sah er auf einem der beiden Untersuchungstische den regungslosen Körper eines jungen Samurai, der unter Wolldecken lag. Das Gesicht des jungen Mannes war bleich, seine Augen geschlossen.
Nirin schlug die Decken zur Seite und sagte irgendetwas auf Japanisch, sprach aber zu schnell, als dass Huygens ihn hätte verstehen können. Doch der Arzt zuckte zusammen, als er die klaffende Wunde am nackten Oberschenkel des jungen Burschen sah, aus der noch immer Blut strömte, obwohl jemand eine Aderpresse angelegt hatte.
»Sein Sohn«, übersetzte der Dolmetscher. »Er wurde verwundet, als das holländische Segelschiff unsere Schaluppe versenkt hat. Könnt Ihr den Jungen heilen, ehrenwerter Doktor?«
Die Besatzung auf Deshima verstieß schon deshalb oft gegen die Vorschriften, weil sie sich mit der Bitte um ärztliche Hilfe an Huygens wandte. Und der vergaß nun Jan Spaen, Sano, deGraeff und seine eigene Vergangenheit; der Arzt in seinem Inneren übernahm das Kommando. Er eilte zu dem verletzten Jungen, berührte dessen kalten Hals, fühlte den schwachen, unregelmäßigen Puls.
»Bringt heißes Wasser«, sagte er.
Der Dolmetscher übersetzte, und die Wachsoldaten gehorchten. Als Huygens dem Jungen das Blut vom Oberschenkel wusch, sah er, dass die Wunde tief und gefährlich war. Aus einer durchschnittenen Schlagader strömte kostbares Blut ins zerfetzte Gewebe. Ausbrennen – die übliche Methode, eine solche Wunde mit Hilfe eines glühenden Eisens zu schließen – würde in diesem Fall nicht helfen. Huygens nahm eine dünne Nadel und ein langes Menschenhaar aus einem der Schränke. Indem er eine Technik benutzte, die er selbst an der Universität zu Leyden entwickelt hatte, nähte er die durchtrennte Arterie mit winzigen Stichen; dann klappte er die Fleischlappen der Schnittwunde behutsam zusammen und vernähte auch sie, indem er eine dickere Nadel und Haar vom Schwanz eines Pferdes benützte. Ehrfürchtiges Gemurmel erhob sich unter den Japanern. Schließlich entfernte Huygens die Aderpresse, reinigte die Wunde und legte einen Verband an.
»Wenn Euer Sohn überleben soll«, sagte er dann zu Nirin, »müssen wir ihm frisches Blut zuführen. Ihr müsst mir einen Hund beschaffen.«
Die Übersetzung des Dolmetschers erregte misstrauische Fragen der Japaner. Sie wollten wissen, ob Huygens etwa gegen das ›Gesetz zum Schutz der Hunde‹ verstoßen wolle, diese verrückte Vorschrift des Shogun, die das Leben von Hunden über das von Menschen stellte.
»Ich habe keine Zeit für lange Erklärungen«, erwiderte Huygens ungeduldig. »Beschafft mir einen Hund, oder der Junge wird sterben.«
Die Wachsoldaten rannten zur Tür hinaus. Huygens, Nirin und der Dolmetscher standen bei dem Verwundeten. Als Huygens den Blick vom leichenblassen Gesicht des Jungen löste und Nirins grimmige Miene sah, erfasste ihn Furcht. Würden die Japaner ihn aus Rache töten, wenn es ihm nicht gelang, den Jungen zu retten, der seine Wunde ja schließlich den Holländern zu verdanken hatte? Doch unter der Oberfläche seiner Furcht regte sich die Hoffnung, von einem Leben erlöst zu werden, das schlimmer war als der Tod …
Jan Spaen hatte damals Huygens’ gewalttätige Auseinandersetzung mit Tulp beobachtet, die mit dem
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