Die Spur des Verraeters
Tod Franz Tulps geendet hatte. Doch die beiden Männer hatten sich erst wiedergesehen, als Huygens’ Leben sich völlig verändert hatte.
Der Vorfall mit Franz Tulp hatte Huygens bis ins Innerste erschüttert. Aus Angst vor der Polizei hatte er sich in seinen Zimmern versteckt, körperlich krank vor Angst und Schuldgefühlen. Und er hatte damit gerechnet, dass Spaen mit irgendeiner erpresserischen Forderung an ihn herantrat. Doch als die Wochen ins Land zogen und nichts geschah, keimte in Huygens allmählich die Hoffnung, ungestraft davonzukommen. Das Schicksal gab ihm eine neue Chance.
Die nächsten zwanzig Jahre hatte Huygens damit verbracht, für seine Sünde zu büßen. Er hatte seine Freunde von damals verlassen, mit dem Trinken aufgehört, sich ins Studium gestürzt und als bester des Jahrgangs sein Examen abgelegt. An der Universität Leyden hatte Huygens eine begehrte Professorenstelle bekommen, ja, er lehrte sogar in Rom und Paris. Er gründete ein privates Hospital, an dem sowohl reiche, berühmte Patienten wie auch mittellose Bürger behandelt wurden. Huygens heiratete Judith, ein Mädchen aus reichem Hause, das sein Vater ihm zur Frau ausersehen hatte, und verliebte sich in sie. Als die Jahre ins Land zogen, verblassten die Erinnerungen an die Vergangenheit, und Huygens dachte kaum noch an seine wilden Jugendjahre und an den Mann, der miterlebt hatte, wie Nicolaes Huygens die schlimmste Tat seines Lebens beging …
Doch als Huygens an einer Ärztetagung in Amsterdam teilnahm und eines Abends in Begleitung einiger Kollegen den Versammlungssaal verließ, erblickte er in der Eingangshalle plötzlich einen Geist aus der Vergangenheit. Wie eine Fontäne aus kaltem, fauligem Wasser schoss der Schock in seiner Brust empor, und Huygens blieb wie angewurzelt stehen.
Jan Spaen lächelte. »Sie haben vorhin einen ausgezeichneten Vortrag gehalten, Dr. Nicolaes Huygens«, sagte er.
Spaen war immer noch ein gut aussehender, großer und kräftiger Mann mit goldenem Haar und kühnem, wissendem Blick. Huygens hätte ihn immer und überall wiedererkannt. Und nun erfüllte es ihn mit Entsetzen, dass Spaen ihn mit Namen und Titel anredete, denn an jenem längst vergangenen Tag auf der kermis hatte Spaen seinen Namen nicht gekannt. In diesem Moment erkannte Huygens, dass Jan Spaen gekommen war, um seine Schulden einzufordern.
»Nach so langer Zeit haben wir viel zu bereden.« Spaen führte den Arzt auf eine menschenleere Straße. »Ich bin Kaufmann bei der Ostindischen Kompanie und bleibe in Amsterdam, bis mein Schiff ausläuft. Ich könnte einen guten Schiffsarzt für meine Besatzung gebrauchen. Und Ihrem Vortrag, Doktor, konnte ich entnehmen, dass Ihr viel von Wundverletzungen und tropischen Krankheiten versteht. Wie sieht’s aus, wollt Ihr mich begleiten?«
Huygens hatte das schreckliche Gefühl, von einer unsichtbaren Flutwelle überspült zu werden, die alles mit sich riss, was ihm lieb und teuer war, und die ihn allein und einsam zurückließ. »Aber ich kann nicht zur See fahren«, protestierte er. »Meine Arbeit, meine Familie …«
»Die Gertje läuft nächste Woche zu den Gewürzinseln aus«, unterbrach Spaen ihn. »Wir sehen uns an Bord, Doktor.«
Huygens blieb keine Wahl, als sich zu fügen. Wenn die Öffentlichkeit erfuhr, was Spaen über ihn wusste, war sein Leben ruiniert. Trotz des heftigen Widerspruchs von Familie und Kollegen legte Huygens seine Professur nieder und schloss sein privates Hospital. Aus Angst, die Liebe und Achtung seiner Frau zu verlieren, gab Huygens vor, von einer plötzlichen Reiselust gepackt worden zu sein. An dem kalten, trüben Tag seiner Abreise hatte er vom Deck des Schiffes seiner Frau und dem kleinen Sohn zugewinkt, deren Gestalten auf der Anlegestelle rasch kleiner wurden.
»Ich komme bald wieder«, rief er, fest entschlossen, sich aus Spaens unsichtbarer Umklammerung zu befreien.
Das Leben auf See war schlimmer, als Huygens es sich jemals hätte vorstellen können: Stürme, Piraten, fauliges Essen, Krankheiten; die ständige Drohung der Meuterei; zahllose Unfälle, bei denen Seeleute verletzt, verstümmelt oder getötet wurden; häufige militärische Scharmützel und die Gesellschaft von Männern, die sich wider Willen in die Besatzung einfügen mussten. Doch Jan Spaen schien in dieser Welt der Gefahren und Bedrohungen aufzublühen. Tag für Tag ließ Huygens, kochend vor Wut, die jovialen Tischgespräche des Kapitäns über sich ergehen.
Zwei Jahre später
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