Die Spur des Verraeters
überbrachte ein holländischer Reisender Huygens die Nachricht, dass seine Frau Judith bei einer Epidemie ums Lebens gekommen war. Pieter, Huygens’ hilflosen, geistig zurückgebliebenen Sohn, hatte man im heruntergekommenen Irrenhaus in Leyden untergebracht; der Junge war kurz darauf gestorben. Nicolaes Huygens wusste, dass er diese Tragödie hätte verhindern können, wenn er daheim gewesen wäre! Sein Hass auf Jan Spaen wuchs. Hatte er, Huygens, sein Verbrechen denn nicht gesühnt, indem er ein anderer Mensch geworden war und sich um die Armen und Kranken gekümmert hatte? Die Ethik seines Berufs untersagte es Huygens, Leben zu vernichten; dennoch träumte er davon, Jan Spaen zu töten. Die Qual, zusammen mit diesem Mann auf Deshima eingesperrt zu sein, wurde unerträglich …
Draußen erklang lautes Gebell und kündete von der Rückkehr der Wachsoldaten, die einen lebhaften schwarzen Hund an einem Seil, das er um den Hals trug, ins Behandlungszimmer zerrten. »Bindet den Hund auf dem Hof fest«, sagte Huygens. »Dann wartet hier im Zimmer.«
Der Dolmetscher übersetzte, und die Wachen gehorchten. Huygens ging allein auf den Hof. In der einen Hand hielt er einen Knüppel, in der anderen ein Skalpell. Der Hund sprang freudig auf und ab und wedelte mit dem Schwanz. »Möge Gott mir vergeben«, flüsterte Huygens. Ein wuchtiger Hieb auf den Schädel, und der Hund stürzte tot zu Boden; mehrere flinke Schnitte in seinen Hals, und Huygens hielt eine lange weiße Vene in der Hand, von der noch das warme Blut tropfte. Er eilte zurück ins Behandlungszimmer und säuberte die Vene in einem Eimer Wasser.
»Setzt Euch auf den Tisch«, wies er Hauptmann Nirin an, »und rollt den Ärmel so weit hoch, dass ich Euch eine Nadel in den Arm stechen und einiges von Eurem Blut in die Adern Eures Sohnes überlaufen lassen kann.«
Mit angespannter Miene lauschte Hauptmann Nirin dem Dolmetscher und tat dann wie geheißen. Huygens nahm zwei Kanülen aus einem der Schränke: kleine silberne Hohlnadeln, an einem Ende stumpf, am anderen abgeschrägt und spitz. Huygens betete, der Eingriff möge gelingen. Dass er Spenderblut vom Vater des Verwundeten benützen konnte, erhöhte zwar die Erfolgsaussichten, doch waren auch unter diesen Voraussetzungen schon Patienten gestorben, während andere sich erholt hatten.
Huygens betastete den schlaffen, kalten linken Arm des Jungen und fühlte eine Vene. Als er die spitze Kanüle hineinstach, zuckte der Junge nicht einmal. Huygens wandte sich Nirin zu.
Der Hauptmann hielt dem Arzt auf dessen Bitte tapfer den Arm hin und stöhnte leise auf, als die Kanüle in sein Fleisch drang und das Blut hervorschoss. Rasch nahm Huygens die schlaffe Vene des Hundes und streifte sie über das stumpfe Ende der Kanüle in Nirins Arm; dann wiederholte er den Vorgang bei dem Jungen.
»Öffnet und schließt die Faust«, sagte Huygens zu Nirin und führte es ihm vor.
Die Vene des Hundes färbte sich rot, als Nirins Blut hindurchströmte. Von draußen waren leise die Stimmen der Wachen zu hören, die das Zimmer verlassen hatten, um den Kadaver des Hundes zu beseitigen – ein weiteres der vielen Geheimnisse Deshimas. Stille breitete sich im Behandlungszimmer aus. Nirin beobachtete das Gesicht seines Sohnes. Huygens hatte die Hand an den Hals des Jungen gelegt und spürte, wie der Puls allmählich kräftiger wurde. Farbe kehrte in das kreidebleiche Gesicht des Jungen zurück; seine Lider flatterten. Dann schlug er die Augen auf.
»Vater …«, flüsterte er.
Nirins harte Züge wurden weicher. Während er dem Sohn über die Wange streichelte, brach der Dolmetscher in Jubel aus. Für einen Moment empfand Huygens das Hochgefühl, das er immer verspürte, wenn er einem Menschen das Leben gerettet hatte.
Dann aber kehrten die Furcht und der bittere Schmerz wieder. Nicht einmal medizinische Wunder konnten wettmachen, was Huygens verloren hatte, als er der Ostindischen Kompanie beigetreten war. Auch der Tod Jan Spaens konnte ihm nicht zurückgeben, was auf ewig verschwunden war, oder den Hass beenden, den Huygens noch immer für diesen Mann empfand. Und wenn Sano Ichirō die Wahrheit über Huygens erfuhr, würde er seine Suche nach dem Mörder Spaens einstellen.
27.
D
as graue, regenverhangene Stadtbild Nagasakis zog verschwommen an Hirata vorüber, als er durch die nassen Straßen und müllübersäte, stinkende Gassen eilte und die vom Regen glatten Stufen öffentlicher Treppen hinaufstieg. Durchgefroren und
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