Die Spur des Verraeters
geschlossen habt.«
Die Geschichte hörte sich glaubhaft an. Doch statt Sano einen Gefallen zu tun und ihn davon in Kenntnis zu setzen, hatte der Statthalter ihm diese Information bis jetzt vorenthalten. Und ob die Geschichte der Wahrheit entsprach, konnte Sano nun nicht mehr überprüfen, war ihm doch auf Anweisung Nagais ein Besuch auf Deshima untersagt. Doch Sanos Zorn auf Nagai verblasste angesichts seiner Wut auf Dr. Huygens. Wenn Huygens gelogen hatte, was sein Verhältnis zu Spaen betraf – welche anderen Lügen hatte er ihm dann noch aufgetischt? Hatte er nur so getan, als würde er Sano dabei helfen, Jan Spaens Leichnam zu untersuchen, wobei er die Gelegenheit genutzt hatte, die Ergebnisse der Obduktion falsch wiederzugeben? Voller Bitterkeit fragte sich Sano, ob Huygens’ Freundschaft lediglich Heuchelei gewesen war, die dazu dienen sollte, seinen Verdacht zu zerstreuen.
»Wenn Ihr mich jetzt entschuldigen würdet«, sagte Statthalter Nagai. »Ich muss eine Stadt verteidigen.«
Er versammelte seine Adjutanten zu einer Lagebesprechung in der Kabine. Iishino war verschwunden, und Sano war allein mit seinen Ängsten und Zweifeln. Hatte er einen Verrat riskiert und seine Nachforschungen zunichte gemacht, indem er unwissentlich mit dem Mörder zusammengearbeitet hatte, den er suchte?
26.
I
m Gemeinschaftsraum der holländischen Händler auf Deshima saßen Dr. Nicolaes Huygens und Vizedirektor deGraeff mit ihren drei Landsleuten zusammen. Sechs Stunden waren sie nun schon in dem Zimmer – seit das Schiff der Ostindischen Kompanie in den Hafen eingelaufen war. Jetzt lagen die Reste des Mittagessens der fünf Männer auf dem Tisch verstreut, und die Luft stank nach einer Mischung aus Tabakrauch, brennendem Lampenöl und Fäkalien. Vor dem Zimmer standen Wachsoldaten, die den Befehl hatten, die Barbaren nicht hinauszulassen. Als Huygens beobachtete, wie deGraeff sich erhob und unruhig auf und ab ging, um sich die Beine zu vertreten, überkam ihn Furcht, und Schweiß tränkte seine Kleidung.
»Warum hält man uns hier wie Gefangene?«, jammerte ein Schreiber zum vielleicht hundertsten Mal. »Warum sagt man uns nicht, was los ist? Was war das für ein lauter Knall vorhin? Und was soll nun aus uns werden?«
DeGraeff schnaubte. »Wie ich schon sagte – wir können mit Sicherheit davon ausgehen, dass unser Schiff ohne Erlaubnis den Hafen angelaufen und auf die Japaner geschossen hat. Ich nehme an, wir sind jetzt Kriegsgefangene.«
Manchmal, wenn Huygens sich nicht durch naturwissenschaftliche Studien von seinem Heimweh befreien konnte, suchte er Trost in der Vergangenheit. Um seine Furcht vor der ungewissen Zukunft in Grenzen zu halten, stellte Huygens sich diesmal sein altes Labor an der Universität in Leyden vor, der größten Lehranstalt der Welt, die von Studenten aus ganz Europa besucht wurde. Er rief sich den Anblick der Regale an den Wänden ins Gedächtnis, die voller Bücher und anatomischer Modelle gewesen waren, voller menschlicher Organe und Gliedmaßen, in Alkohol konserviert, voller ausgestopfter Tiere, voller Lampen und Spiegel, voller Mikroskope und anderen wissenschaftlichen Instrumenten, und voller Notizen über seine, Nicolaes Huygens’ Forschungsergebnisse auf den Gebieten der Pathologie und der Behandlung von Krankheiten. Stets war das Labor überfüllt gewesen. Huygens’ Ruf hatte Wissenschaftler angezogen, die Rat bei ihm suchten, und Studenten, die sich bei ihm weiterbilden wollten.
Dann rief Huygens sich den Anblick des riesigen Anatomiesaales in Erinnerung, dessen Bankreihen bis auf den letzten Platz mit Ärzten und Medizinstudenten und Neugierigen gefüllt waren. Er erinnerte sich an seine Vorlesung über die Physiologie der sezierten Leiche, die neben ihm auf dem Untersuchungstisch lag, und er dachte daran, wie er die mit deutschem, englischem, französischem, schwedischem und ungarischem Akzent gestellten Fragen beantwortet hatte.
Zuletzt dachte er mit Wehmut an den Anblick seines kleinen steinernen Reihenhauses neben dem von Bäumen beschatteten Kanal. An schönen Sommerabenden hatten Huygens und seine Frau Judith sich auf einer Bank neben der Tür entspannt. Zu ihren Füßen spielte Pieter, acht Jahre alt, mit seinen winzigen Augen und dem dicken, übergroßen Kopf. Er benahm sich wie ein Säugling, konnte kaum ein Wort sprechen, konnte sich nicht selbst anziehen und nicht allein essen. Trotz seiner wissenschaftlichen Kenntnisse konnte Huygens weder eine Erklärung noch
Weitere Kostenlose Bücher