Die Staatsanwältin - Thriller
erholen würde.
Antoine Marshalls Hinrichtung war noch sechs Tage entfernt. Was würde passieren, wenn ich Mace James jetzt diese Informationen gab? War es zu spät, als dass es noch eine Rolle spielen würde? Selbst wenn nicht, würde der Generalstaatsanwalt den neuen Brief von Antoine benutzen können, um die Auswirkungen dieser Erkenntnisse über Richter Snowden und meinen Vater zu kompensieren? Sollte ich mir überhaupt solche Fragen stellen?
Anders ausgedrückt: Konnte ich wirklich auf diesen entlastenden Beweisen sitzen bleiben und zusehen, wie der Staat Antoine Marshalls Leben ein Ende setzte?
Ich musste mit Dr. Gillespie reden. Ich rief ihn an, bevor ich zur Arbeit fuhr, und er versprach, sich für mich Zeit zu nehmen, sobald ich aus dem Gericht kam.
Später am Nachmittag sprach ich mit Chris. Er hatte auf meinem Anrufbeantworter vier Nachrichten über einen ähnlichen Brief hinterlassen, den er erhalten hatte. Ich hatte den Rückruf hinausgeschoben, denn ich wusste, es würde emotional anstrengend werden, darüber zu sprechen.
Er ging beim ersten Klingeln ran. »Hast du einen Brief bekommen?«, fragte er.
»Ja. Ich musste ihn dreimal lesen, bevor ich es begriffen habe.«
»Ich auch. Ich versuche seit gestern Abend, dich zu erreichen.«
»Ich weiß. Du hast vielleicht gehört, dass wir ein bisschen beschäftigt sind.«
Chris antwortete lange nicht. Ich kannte meinen Bruder, deshalb war mir klar, dass er den Mut sammelte, um mir etwas zu sagen. »Jamie, ich glaube, dieser Brief ist echt. Ich weiß, wie du darüber denkst, aber ich glaube wirklich, dass Antoine Marshall eine ehrliche Bekehrung erlebt hat und dass dieser Hirntest ihm geholfen hat, sich damit auseinanderzusetzen, was er getan hat. Ich sage nicht, dass er unschuldig ist, aber ich sage, er ist heute nicht mehr derselbe Mensch wie damals.«
Chris unterbrach sich und wartete auf eine Reaktion.
Ich dachte nach und wählte meine Worte mit Bedacht. »Ich habe die ganze Zeit mit Typen wie Antoine Marshall zu tun. Sie behaupten alle, sie hätten im Gefängnis zu Jesus gefunden. Dadurch bekommen sie Strafverkürzungen. Ich finde es höchst verdächtig, dass er nur eine Woche vor seiner Hinrichtung endlich gesteht, aber erst, nachdem er alles andere versucht hat, damit sein Fall neu aufgerollt wird.«
»Sein Anwalt hat heute angerufen.« Chris' Stimme blieb leise. Ich wusste, er wollte keinen Streit, und ich in Wahrheit auch nicht. »Er will wissen, ob ich offiziell darum bitten könnte, dass Marshalls Todesurteil in Lebenslänglich ohne Bewährung umgewandelt wird.« Er zögerte, wahrscheinlich erwartete er eine Explosion von mir. Als keine kam, ließ er seine eigene Bombe platzen.
»Ich denke ernsthaft darüber nach, Jamie. Ich war nie für die Todesstrafe, und ich glaube, ich könnte nicht damit leben, wenn ich in diesem Fall nicht um Gnade bitten würde. Ich komme immer wieder zur Bergpredigt zurück, wo Christus uns sagt, wir sollen anderen vergeben, wenn wir wollen, dass uns vergeben wird.«
»Wir müssen beide tun, was wir für das Richtige halten«, sagte ich. Ich wusste, Chris erwartete mehr Widerstand, aber ich war zu ausgelaugt und erschöpft für diese Unterhaltung. Dennoch fühlte ich mich von meinem älteren Bruder im Stich gelassen. Antoine Marshall hatte unsere Mutter umgebracht, und jetzt wollte mein Bruder eine eidesstattliche Erklärung unterschreiben und darum bitten, dass das Leben dieses Mannes verschont wurde? Für mich fühlte es sich wie Verrat an.
»Gehst du trotzdem mit mir zur Hinrichtung?«, fragte ich.
»Ja. Und ich bete, dass du diesem Mann irgendwann vergeben kannst, auch wenn du glaubst, dass der Staat ihn hinrichten sollte.«
»Dann bete weiter. Denn im Moment kann ich daran nicht glauben.«
Mitten in meiner Sitzung mit Dr. Gillespie wurde mir alles klar. Zum ersten Mal erzählte ich ihm alles über das Dilemma, in dem ich steckte. Erwartungsgemäß hörte er geduldig zu und stellte verständnisvolle Fragen. Wenn er sprach, waren seine Worte wohlüberlegt und aufschlussreich. Er half mir, mein Dilemma in einem ganz neuen Licht zu sehen.
»Tief in deinem Inneren«, sagte er, »bist du der Gerechtigkeit verpflichtet. Mace James Beweise vorzuenthalten und Antoine Marshall sterben zu sehen, wäre wie eine Vergewaltigung seiner Seele.«
Ich sagte nichts.
»Auf der anderen Seite hast du das Bedürfnis, deinen Vater zu beschützen und das Bild dieser perfekten Familie zu bewahren, die Antoine Marshall
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