Die Staatskanzlei - Kriminalroman
richtet. Sie töten sich selbst, nicht andere.“
Verena trank einen Schluck Kaffee, hörte ihm aufmerksam zu. War Britta König depressiv? Ganz sicher nicht. Aber Gesine Terberg, bei der war es durchaus möglich.
„Es können aber auch andere Krankheitsbilder gegeben sein“, fuhr der Profiler fort. „Dynamisch entleerte Menschen leiden unter einer Affektverflachung. Affektive Zustände wie Freude, Mitgefühl, Wut und so weiter sind ihnen fremd. Das unterscheidet sie von uns sogenannten Normalen.“
„Aber, das würde doch bedeuten, dass diese Menschen keinen Hass empfinden. Hass gehört doch auch zu den …, wie haben Sie es noch genannt …?“
„Affektive Zustände. Sie haben völlig recht, das ist ein Widerspruch. Ein Widerspruch, der sich aber auflöst, wenn ich mit meiner Vermutung recht habe.“
Er lehnte sich weit zurück und schaute Verena skeptisch an, als ob er prüfen wollte, was er ihr zumuten konnte.
„Nun spannen Sie mich nicht länger auf die Folter. Was konkret wollen Sie mir sagen?“
„Dass das Motiv für die Taten kein Hass war. Das wir den Fall nicht mit normalen Maßstäben beurteilen können, weil der Täter selbst nicht normal ist. Ich gehe davon aus, dass wir mit einer Person zu tun haben, die an paranoider Schizophrenie erkrankt ist. Schizophrenien kommen im Alter häufig vor und sind dann zumeist ungefährlich, sind von Demenzerkrankungen kaum zu unterscheiden. Das gilt übrigens auch für sogenannte pubertätsbedingte Schizophrenien, die mit der richtigen medikamentösen Behandlung meist nach wenigen Wochen wieder verschwinden. Es gibt aber Krankheitsverläufe, bei denen es immer wieder zu neuen Schüben kommt. Fälle, die mit schwerwiegenden schizophrenen Psychosen mit biochemischen Veränderungsprozessen und paranoiden Erkrankungen einhergehen.“
„Können Sie das auch für Otto Normalverbraucher erklären? Ich bin weder Mediziner noch Psychologe“, bat ihn Verena.
„Sorry, ich wollte sie nicht düpieren. Vereinfacht ausgedrückt: Die Betroffenen haben Wahnvorstellungen, hören Stimmen und fühlen sich fremdbestimmt. Sie ordnen die Stimmen außerirdischen Lebenswesen zu und sind überzeugt, die Befehle, die diese Stimmen ihnen einflüstern, umsetzen zu müssen. Sie folgen einem inneren Zwang.“
„Sie wollen andeuten, dass der Täter glaubt, Befehle aus dem Jenseits zu bekommen, und deshalb die beiden Beamten getötet hat?“
Der Profiler nickte verhalten. „Es klingt idiotisch, ich weiß. Aber so ist es. Die Erkrankten können nicht zwischen der Realität und ihren Wahnvorstellungen unterscheiden. Sie leben in der unerschütterlichen Überzeugung, dass es die Außerirdischen tatsächlich gibt und sie von ihnen gesteuert werden.“
Verena war skeptisch. „Aber warum ausgerechnet Heise und Niemann?“
Bertram seufzte. „Ich sagte es bereits: Schizophrenie verläuft in Schüben. Es gibt Phasen, in denen die Kranken nach unseren Maßstäben normal sind. In dieser Zeit führen sie ein unauffälliges Leben, gehen einer geregelten Arbeit nach, pflegen sogar soziale Kontakte. Ein neuer Schub kommt nicht über Nacht, sondern kündigt sich über einen längeren Zeitraum an. Wenn der Kranke rechtzeitig zum Arzt geht, sich in eine Fachklinik einweisen lässt, bekommt man das in den Griff. Neuroleptika bewirken fast immer einen Rückgang der Wahnvorstellungen. In der Kombination von Medikamenten, Gesprächstherapie und Entspannungstechniken kann man den Patienten gut helfen. Werden die Warnsignale jedoch ignoriert, kann es zu der Situation kommen, mit der wir es jetzt vermutlich zu tun haben. Ich gehe davon aus, dass der Täter im Laufe seines Lebens Kontakt mit den beiden hatte.“
Das schrille Läuten ihres Handys unterbrach ihn. Verena schaltete den Anrufer weg. „Fahren Sie fort“, forderte sei den Profiler auf.
Der sah verwirrt aus. „Wo waren wir doch gleich stehen geblieben? Ach ja, bei den Kontakten, die bei diesen Menschen nicht verarbeitete Eindrücke hinterlassen: Ärger, Frust, Enttäuschungen, Empfindungen im Umgang mit anderen eben. Sogenannte normale Menschen schleppen solche Gefühle vielleicht jahrelang unbewältigt mit sich herum, bekommen Magenprobleme oder Schlafstörungen. Sie werden aber auf die eine oder andere Weise damit fertig, ohne zur Waffe zu greifen. Bei Schizophrenen kann das anders sein. Ich habe Fälle erlebt, wo ein Patient zur gleichen Zeit für einen Mitmenschen Liebe und Hass empfunden hat.“
Dazu muss man nicht schizophren
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