Die Staatskanzlei - Kriminalroman
sein, ging es Verena durch den Kopf. Als Franz ihr den Laufpass gegeben hatte, hatte er ein Gefühlschaos bei ihr ausgelöst. Zeitweise hatte sie den unbändigen Wunsch verspürt, ihn mit ihrer Dienstpistole abzuknallen. Stattdessen war sie auf den Golfplatz gefahren, hatte mit ihrem Driver auf den Golfball eingedroschen und riesig weite Abschläge in Serie produziert, die allerdings reihenweise auf Nimmerwiedersehen verschwunden waren.
Bertram war noch nicht fertig. „Ich gehe davon aus, dass der Täter den aufgestauten Ärger in Wahnvorstellungen projiziert und sich eingebildet, die beiden auf Befehl von Außerirdischen töten zu müssen.“
Außerirdische? Der Fall wurde immer vertrackter. „Das hört sich gruselig an. Wie sollen wir diese Person finden? Sollen wir jetzt alle Psychiatriekliniken in Deutschland durchforsten, um festzustellen, ob es einen Schizophrenen gibt, der mit beiden Beamten Kontakt hatte?“
Bertram stellte die Tasse beiseite. „Es handelt sich um Hypothesen. Ich gehe davon aus, dass der Täter zu Hause lebt. Die Taten sind in den Abendstunden geschehen. Aus einer Klinik heraus wäre das nicht möglich.“
Verena war skeptisch. „Ein Geisteskranker, der Stimmen hört und ins Detail durchdachte Mordpläne umsetzt, das passt doch nicht zusammen.“
„Leider muss ich Ihnen widersprechen, Frau Hauser. Schizophrene können Wahnvorstellungen haben und gleichzeitig einen messerscharfen Verstand. Das eine schließt das andere nicht aus. Und noch etwas.“
Er betrachtete sie, als ob er seine Worte gründlich abwägen wollte.
„Bitte keine Hiobsbotschaften mehr, Doc, mir reicht es für heute.“
„Das kann man so oder so sehen. Ich gehe davon aus, dass es sich um eine Frau handelt. Dafür spricht nicht nur, dass weit mehr Frauen als Männer an dieser Krankheit leiden. Entscheidender für mich ist das Muster der Tat. Ich kann es wissenschaftlich nicht begründen, aber ich bin überzeugt, wir haben es mit einer Frau zu tun.“
Verena stöhnte. „Das wird ja immer komplizierter.“
„Beschäftigen Sie sich mit der Vergangenheit der beiden Beamten. Irgendwo muss es eine Frau geben, die negative Erfahrungen mit ihnen gemacht hat. Dort sollten Sie ansetzen.“
Er reckte sich und hob die Arme in die Luft. „Puh bin ich steif. Ich müsste dringend joggen, aber das lausige Wetter … Gestern, als sich für einige Stunden die Sonne gezeigt hat, hätte ich am liebsten alles stehen und liegen gelassen und eine Runde im Tierpark gedreht. Ich wohne nämlich gleich in der Nähe, eine nette kleine Pension, hervorragendes Frühstück. Schönes Fleckchen Erde. Überhaupt gefällt mir Hannover gut. Die Vorurteile, die über Ihre Stadt kursieren, sind unbegründet.“
Verena antwortete nicht. Zu nichts hatte sie weniger Lust als zu unverbindlichem Geplänkel über persönliche Befindlichkeiten. Der Doc hatte gut reden. Wenn seine Vermutung zutraf, hatten sie keine Zeit zu verlieren. Sie hatten mit einer unberechenbaren Gegnerin zu tun. Was, wenn sich ihr krankes Hirn weitere Morde ausdachte?
Sie nahm das Gespräch wieder auf. „Abgesehen von der Staatskanzlei gibt es im Leben der beiden kaum Berührungspunkte. Niemann war kontaktfreudig, verfügte über ein engmaschiges soziales Netz: Familie, Freunde, Bekannte. Heise hat sich nur um sich selbst und seine Karriere gekümmert.“
Bertram erhob sich seufzend. „Ja, ja, Deutschland ist ein Land voller Egoisten geworden.“
Verena ging ein Gedanke durch den Kopf. „Sie sprachen von Schüben und dass man die Krankheit selbst im fortgeschrittenen Stadium verbergen kann. Es muss doch Symptome geben?“
Bertram nickte. „Wir unterscheiden kognitive und motorische Symptome. Häufig verarmt der sprachliche Ausdruck. Es fällt den Patienten schwer, zusammenhängende Texte zu verfassen und schlüssige Sätze zu formulieren. Die motorischen Defizite lassen sich an der Mimik zum Beispiel unkontrollierte Gesichtszuckungen und teilweise auch an der Gestik erkennen. Beides muss aber nicht eintreten. Fast alle Kranken sind kontaktgestört. Sie ziehen sich sozial zurück und meistens geht die Krankheit mit Schlafstörungen und Depressionen einher.“
„Und das alles steht in Ihrem Bericht?“, vergewisserte Verena sich.
„So ist es.“ Er griff in seine Jackentasche, holte eine abgegriffene Brieftasche heraus und entnahm ihr eine Visitenkarte. „Wenn Sie nach der Lektüre noch Fragen haben, können Sie mich jederzeit anrufen. Ich fahre noch heute nach
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