Die Staatskanzlei - Kriminalroman
Auch die zynischen, herabsetzenden Mails ihres früheren Vorgesetzten tat sie als Bagatelle ab.
Verena fragte sich, weshalb sie die im ganzen Haus bekannten Auseinandersetzungen nicht zugeben wollte. War es Loyalität gegenüber ihrem Arbeitgeber oder steckte etwas anderes dahinter? Schlechtes Gewissen?
Nach ihrem Alibi für die Tatzeit befragt, erklärte sie, dass sie den Abend vor dem Fernsehgerät verbracht habe. „Mein Mann arbeitet als Ingenieur in Dubai, ich bin viel allein. Und meistens bin ich zu müde, um abends noch wegzugehen.“
An das Programm konnte sie sich nicht erinnern. „Ich muss wohl eingeschlafen sein. Das passiert mir in letzter Zeit öfter. Bei dem saumäßigen Programmangebot und den ständigen Wiederholungen kein Wunder, oder?“
Verena lächelte verständnisvoll. Auch sie schlief gelegentlich vor dem Fernseher ein. Während des Gesprächs knabberte die Ministerialrätin an ihrem Kugelschreiber. Ihre Antworten waren wohlüberlegt. Sie ließ sich nicht aus der Reserve locken. Verena war zu sehr Profi, um nicht zu erkennen, dass es im Inneren ihres Gegenübers brodelte. Die Ministerialbeamtin gab sich überlegen und kühl. In Wirklichkeit war sie hochgradig nervös. Neben der Exfrau gehörte auch sie auf die Liste der Verdächtigen.
Nach der spröden Referatsleiterin stand die Vernehmung der anderen Referatsleiter aus Heises Abteilung an. Neben ihrer ausgesucht guten Kleidung – auf Hochglanz geputzte Schuhe, hochwertige Anzüge mit Krawatte – fiel Verena die gewählte Ausdrucksweise der Beamten auf. Hirschmann hatte mit seiner Einschätzung nicht danebengelegen. Vor ihr saßen Elitebeamte. Sie bestätigten hinlänglich Bekanntes. Auch wenn sie es nur andeuteten, war klar: Der Ermordete war kein angenehmer Vorgesetzter gewesen. Auch der Krach mit seiner Mitarbeiterin König wurde immer wieder erwähnt. Siegbert Meyer, laut Wagner die Klatschtante der Abteilung und Letzter im Bunde der Führungskräfte, war nicht auffindbar. Niemand konnte sagen, wo er war und ob und wann er heute wiederkommen würde.
Als die Polizeibeamtin in ihr Büro zurückfuhr, war die Temperatur auf ein Grad gefallen. Im Radio wurde vor Eisregen gewarnt, lästige Vorboten des nahenden Winters.
20
Im Besprechungsraum des LKA war es lausig kalt. Nicht zum ersten Mal in diesem Jahr war die Heizung kaputt. Der Hausmeister war nicht erreichbar, so mussten sie frieren. Einige der Polizeibeamten hatten ihre Mäntel angezogen. Der Unterschied zu dem wohlig temperierten, hochwertig ausgestatteten Sitzungsraum in der Staatskanzlei war eklatant und in Verenas Augen ein Ärgernis. Die Unterscheidung in Beamte erster und zweiter Klasse entsprach nicht ihrem Demokratieverständnis.
Sie informierte die Runde über ihre Gespräche und fasste die gewonnenen Eindrücke über Heise zusammen. „Weder als Chef noch als Ehemann und Vater hat er sich Trophäen verdient. Ob es für einen Mord gereicht hat, lässt sich aufgrund der dünnen Beweislage noch nicht sagen. Zwei Frauen haben zumindest ein Motiv: seine Exfrau und Ministerialrätin Britta König. Heise hat ihr das Leben zur Hölle gemacht. Und seine Exfrau hat sich keine Mühe gegeben, ihre lange aufgestaute Wut über ihn zu kaschieren.“
Stollmann sah sich genötigt, einen Kommentar zum Berufsleben in Deutschland abzugeben. „Der gnadenlose Konkurrenzkampf in den deutschen Büros treibt die Leute zu Kurzschlusshandlungen. Ein Vorgesetzter, der einen Mitarbeiter jahrelang schikaniert, darf sich nicht wundern, wenn er mit einer Kugel in der Herzkammer endet.“
Heftiger Protest folgte. Wurden sie nicht alle hin und wieder von ihren Vorgesetzten schikaniert? Doch niemand würde auf die Idee kommen, zur Mordwaffe zu greifen. Schon gar nicht im Kreise der Beamtenschaft, wo niemand eine Kündigung befürchten musste. Verena verkniff sich die Frage, wo Stollmann den ganzen Tag gewesen war. Hirschmann stellte sie an ihrer Stelle. „Wo schon? Däumchen habe ich nicht gedreht, Herr Kollege. Ich war in Sachen Schleuserbande unterwegs. Nächste Woche wird eine neue Busladung mit Frauen aus Albanien und Bulgarien erwartet. Der Zugriff erfolgt direkt am Übergabeort.“
„Der da wäre?“, wollte Hirschmann wissen.
„Eine stillgelegte Zuckerfabrik in Algermissen. Wer das Kaff nicht kennt – muss man auch nicht, es liegt rund dreißig Kilometer südöstlich von hier. Der Kopf der Bande ist eine Frau. Eine deutsche Staatsbürgerin albanischer Herkunft. Der Rest der Crew: drei
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