Die Staatskanzlei - Kriminalroman
Täter zugeschlagen hatte. Sie war entlastet.
Obwohl ihr Niemann leidtat, drang die Neuigkeit nicht wirklich in ihr Inneres vor. Ihre Gedanken kreisten einzig und allein um die Wunderpillen, die jetzt wieder in greifbare Nähe gerückt waren. Janssen brachte sie in seinem Jaguar nach Hause. Während der Fahrt schimpfte er über Staatsanwalt Engelbrecht. Worte wie „ausgemachter Idiot und Hohlkopf“ fielen. Von einer „Schande für die Zunft der Juristen“ war die Rede. Irene wollte das nicht hören, sie wollte so schnell wie möglich in ihre Wohnung. Als er sie endlich absetzte, verabschiedete Sie sich hastig von ihm. Ihr erster Weg führte sie ins Badezimmer.
Mit zitternden Händen öffnete sie den schmalen Wandschrank. Allein das Bewusstsein, die Schachtel in der Hand zu haben, verschaffte ihr Linderung. Atmung und Puls beruhigten sich, dann hielt sie inne. Zum ersten Mal seit Monaten hatte sich der Nebel in ihrem Kopf gelichtet. Wenn sie jetzt die Pillen schluckte, würde der Nebel zurückkommen. Wollte sie das wirklich?
Jetzt, wo Alexander tot war, hatte sie die Chance auf ein neues Leben. Ein Leben ohne Geldsorgen, ohne Altmann junior und die freche Anka. Ihre Hände zitterten, ihr Puls raste erneut. Ihr war bewusst, dass sich in diesem kurzen Moment, im Bruchteil von Sekunden, ihr weiteres Leben entscheiden würde.
Sie musste zehn Minuten, vielleicht auch länger, vor dem Schrank gestanden haben, dann zwang sie sich, die Schachtel zurückzulegen. Die Kraft, die sie das kostete, rief Schweißausbrüche bei ihr hervor. Und doch fühlte sie sich ungemein erleichtert, als sie ins Wohnzimmer ging. Hier herrschte wieder einmal Chaos. Sie konnte sich nicht erinnern, ob das schmutzige Geschirr vor ihrem überhasteten Aufbruch bereits dort gestanden hatte.
Frau Klaus, die Mutter von Rosi, der Freundin ihrer Tochter, reagierte freudig überrascht auf ihren Anruf. Sie hatte im Radio von ihrer Freilassung gehört. Den Mädchen gehe es so weit gut, versicherte sie. Sie waren noch in der Schule, wollten danach über den Weihnachtsmarkt an der Marktkirche bummeln. Irene war dankbar, dass Frau Klaus sie nicht auf die Mordfälle ansprach. Sie wollte darüber nicht reden. Im Moment wollte sie nicht einmal wissen, wer Alexander umgebracht hatte und weshalb. Im Grunde ihres Herzens war sie dem Täter dankbar, auch wenn sie es nie zugegeben hätte. Es gehörte sich einfach nicht, einem Mörder dankbar zu sein. Sie war es trotzdem.
Jetzt ging es um sie, nur um sie. Zum ersten Mal in ihrem Leben, nicht um ihren alkoholkranken Vater, nicht um ihre zänkische Mutter und nicht um Alexander. Irene spürte, dass es nur diese eine Chance für sie gab. Wenn es ihr jetzt nicht gelang, ihr Leben in die Hand zu nehmen und sich von den dunklen Schatten der Vergangenheit zu befreien, wäre sie endgültig verloren. Ihr Entschluss stand fest. Frau Klaus wirkte nicht besonders überrascht und falls sie es doch war, ließ sie es sich nicht anmerken. „Das ist kein Problem“, sagte sie. „Karla kann in den nächsten Wochen bei uns wohnen. Die Wohnung ist zwar klein, aber für eine begrenzte Zeit lässt sich das machen.“
Noch während Irene sich bedankte, schämte sie sich, dass sie die Einladungen von Frau Klaus stets ausgeschlagen hatte. Danach tätigte sie weitere Anrufe. Es lief alles nach ihren Vorstellungen. So kurz vor Weihnachten war ein Platz in der Klinik für Suchtkranke am Chiemsee, die als beste ihrer Art in Deutschland galt, kein Problem. Die Entscheidung für eine Klinik weit weg von Hannover fiel ihr leicht. Sie wollte Abstand gewinnen.
Willm Hackmann freute sich, als er ihre Stimme hörte. Er beglückwünschte Irene zu ihrem Entschluss.
„Ich werde selbstverständlich ein Auge auf Karla haben und mich um alles kümmern, was zu regeln ist“, versprach er. „Es gibt übrigens definitiv kein Testament und Gabi Eggers wird keine Ansprüche geltend machen. Es wäre auch aussichtslos. Ich werde Karla vorschlagen, mit ihrer Freundin und deren Mutter in Alexanders Haus zu ziehen. Es wäre blöd, wenn es leer steht und die drei sich in einer beengten Wohnung in einem schäbigen Hochhaus auf die Nerven gehen.“
Sein Angebot, sie am nächsten Tag zum Bahnhof zu fahren, nahm sie gerne an. Später telefonierte sie mit Karla, informierte sie über ihre Pläne. Ihre Hoffnung, dass ihre Tochter über Nacht nach Hause kommen würde, erfüllte sich nicht. Karla wollte bei Rosi übernachten. Der jähe Schmerz tat weh.
Es ist
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