Die Staatskanzlei - Kriminalroman
sie als Kind vermisst hatte: Geborgenheit, Sicherheit und Wohlstand. Dass Liebe in ihrer Beziehung keine Rolle spielte, hatte sie nicht gestört. Den Luxus von Gefühlen hatte sie sich als Kind abgewöhnt.
Als sie herausfand, dass Alexander sie mit anderen Frauen betrog, hatte sie darüber hinweggesehen. Es störte sie nicht. Im Gegenteil, sie mochte den Sex mit ihm nicht, war erleichtert, dass andere Frauen das für sie erledigten. Sie genoss das angenehme Leben der Ehefrau eines hohen Beamten. Existenzsorgen wie viele Frauen in ihrer Nachbarschaft, deren Männer sich mit den Folgen von Konjunktureinbrüchen und drohender Arbeitslosigkeit herumschlagen mussten, waren ihr fremd. Ihr Mann verfügte über einen krisenfesten Job mit lebenslangem Kündigungsschutz und hohen Pensionsansprüchen. Die Sicherheit, die sie aus diesem Wissen zog, wurde eine wichtige Stütze für sie, die ihr mangelndes Selbstbewusstsein übertünchte.
Ihr Leben verlief in geordneten Bahnen, sie war nicht glücklich, aber zufrieden. Bis zu dem Tag, als Alexander ihr mitteilte, dass es aus und vorbei sei. Er hatte eine andere. Jünger, erfolgreicher und attraktiver. Das angenehme Leben in einem gepflegten Reihenhaus mit Putzfrau und großzügig bemessenem Haushaltsgeld, Kaffeeklatschrunde am Montag, Tennis am Dienstag und Bridge am Donnerstag fand ein jähes Ende. Der Unterhalt, den Alexander für Karla und sie zahlte, bewegte sich knapp über Hartz-IV-Niveau. Der Richter meinte, dass sie mit siebenundvierzig jung genug sei, um selbst für sich zu sorgen. Der Teilzeitjob bei Altmann & Partner, den Alexander ihr verschaffte, brachte ihr 600 Euro monatlich ein.
Der nächste Tiefschlag war vorprogrammiert. Der ihr wohlgesonnene Altmann senior zog sich aufs Altenteil zurück, der ihr feindselig gesonnene Junior wurde ihr Chef. Probleme mit der pubertierenden Karla kamen hinzu. Dass sie ihr Leben überhaupt noch auf die Reihe bekam, verdankte sie den Tabletten, die der Arzt ihr seit einigen Jahren verschrieb. Sie fühlte sich danach angenehm entspannt, der Alltag erschien ihr weniger bedrohlich. Allerdings ließ die Wirkung im Laufe der Zeit nach und sie war gezwungen, die Dosis zu steigern. Zuletzt war sie bei fünf Pillen täglich angelangt.
In der Hektik des überstürzten Aufbruchs nach der Festnahme hatte sie ihre Tabletten vergessen. Als sie es bemerkte, saß sie bereits in einer muffigen Untersuchungszelle. Sie verfiel in Panik, hätte ihre Angst gerne herausgeschrien, stattdessen weinte sie leise vor sich hin.
Die Aufsichtsbeamtin um Tabletten zu bitten, traute sie sich nicht. Die unnahbare Frau guckte so streng. Außerdem war es viel zu lange her, dass sie jemanden um Hilfe gebeten hatte. Am nächsten Vormittag war Strafverteidiger Janssen auf der Bildfläche erschienen. Willm hatte den besten Strafverteidiger engagiert, den Hannover aufzubieten hatte. Janssen hatte sie nach wenigen Minuten durchschaut. Mit Suchterkrankungen kannte er sich aus, zogen sie doch häufig Gewaltverbrechen nach sich.
„Wir plädieren auf Schuldminderung“, hatte er entschieden. „Sie sind krank.“ Sie wollte das nicht, es war ihr peinlich, auch wegen Karla. „Ich bin nicht krank“, hatte sie widersprochen. Danach traute sie sich erst recht nicht, die Vollzugsbeamtin um Tabletten zu bitten. Am Nachmittag bekam sie Krämpfe, zuerst im Bauch, dann im ganzen Körper. Später kamen heftige Kopfschmerzen dazu. Sie lag auf dem schmalen Bett und krümmte sich vor Schmerzen. Die Aufsichtsbeamtin war besorgt und telefonierte nach dem Gefängnisarzt. Der reagierte ungehalten. Seine Pläne fürs erste Adventswochenende waren andere. Er sah sie nur flüchtig an und diagnostizierte eine Virusgrippe.
„Die ist auf dem Vormarsch und wird Weihnachten ganz Hannover in ihren Klauen halten“, stellte er fest, verpasste ihr eine Spritze und ließ eine Schachtel mit Asperintabletten zurück, bevor er eiligen Schrittes verschwand.
Ihr war zu diesem Zeitpunkt alles egal. Ob sie zu Unrecht als Mörderin verurteilt und jahrelang im Gefängnis sitzen oder gar sterben würde, es interessierte sie nicht. Nicht einmal der Gedanke an Karla gab ihr noch Kraft. Sie verbrachte das schlimmste Wochenende ihres Lebens. Am Sonntagabend ging es ihr etwas besser, obwohl sie sich noch immer sterbenskrank fühlte. Am nächsten Tag kreuzte ihr Anwalt auf. Der Haftbefehl gegen sie war aufgehoben. Ein weiterer Beamter der Staatskanzlei war erschossen worden. Alles sprach dafür, dass derselbe
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