Die Staatskanzlei - Kriminalroman
Alexanders Schuld. Er hat uns im Stich gelassen. Die Wut, die sie in diesem Moment empfand, drückte auf ihre Brust. Sie wusste, sie würde lernen müssen, ihm zu vergeben. Der Weg, der vor ihr lag, war steinig, der Hass einer jener Steine, die es wegzuräumen galt. Als sie am nächsten Morgen um Viertel vor acht den ICE in Richtung München bestieg, winkte sie Willm noch lange hinterher. Erst als von ihm nichts mehr zu sehen war, nahm sie ihren Platz im Großraumabteil der ersten Klasse ein. Der Gedanke, dass dies ein Abschied für immer war und sie nie mehr zurückkommen würde, ließ sie die ganze Fahrt über nicht mehr los.
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„Sie wollen mit dem Ministerpräsidenten sprechen? Jetzt gleich?“ Weit aufgerissene Augen starrten Verena überrascht an.
„Ja, das würde ich gerne.“
Sybille Becker schüttelte ihren rot gelockten Kopf. „Das wird nicht gehen. Der Ministerpräsident befindet sich in einem wichtigen Gespräch mit dem Präsidenten des niedersächsischen Handwerks und seinem Geschäftsführer. Es stehen heikle Themen an. Die Finanzkrise, der große Befähigungsnachweis und der Fachkräftemangel. Das kann sich hinziehen.“
Verena kam näher. Für eine Persönliche Referentin war sie ungewöhnlich jung, Mitte zwanzig vielleicht. „Ich erwarte nicht, dass sie das Gespräch unterbrechen, ich kann warten.“
Ihrem Gegenüber gefiel die Vorstellung nicht. Sie zog den Kalender auf dem Schreibtisch vor sich zu sich heran und blätterte darin herum. „Und anschließend muss er in die Parteizentrale. Eine Vorstandssitzung. Da ist der Herr Ministerpräsident unabkömmlich.“
„Ein paar Minuten wird er sicherlich Zeit für mich finden. Immerhin geht es um Mord. Zwei seiner engsten Mitarbeiter sind tot.“
„Ja, ja, der Chef ist tief betroffen. Allerdings hat er Staatssekretär Haders die Sache übertragen, der ist Chef der Staatskanzlei. Weshalb sprechen Sie nicht mit ihm?“
„Das habe ich bereits getan. Beide Beamten hatten einen besonders engen Draht zum Regierungschef. Es liegt auf der Hand, dass ich mit ihm selbst sprechen möchte.“
„Dann müssen Sie draußen warten, ich habe zu tun.“ Sie zeigte auf ein Blatt Papier auf ihrem Schreibtisch. „Die Leute auf der Liste muss ich alle noch heute anrufen.“
In der Besucherecke direkt vor dem Büro des Ministerpräsidenten lagen Hochglanzbroschüren aus. Aus Langeweile blätterte Verena in einer davon. Sie trug den Titel „Niedersachsen, das Land mit Weitblick“.
Fast auf jeder Seite bunte Bilder mit dem Regierungschef: bei einer Schiffstaufe auf der Meyer Werft in Papenburg, beim Spaziergang im Wattenmeer, auf einem Krabbenkutter, bei einer Wanderung im Harz, auf Betriebsversammlungen und Volksfesten. Schützenfeste, Sommerfeste, Weihnachtsmärkte und immer wieder das Gartenfestival in Herrenhausen. Wen interessierten solche Broschüren, fragte sich Verena und fand keine Antwort. Der Gedanke an die Kosten und ihr seit Jahren aus Geldmangel nicht repariertes Bürofenster löste Wut bei ihr aus.
Die Tür zum Vorzimmer des Ministerpräsidenten wurde geöffnet und heraus kamen zwei Männer in dunkelblauen Anzügen. Der Ältere, vermutlich der Handwerkspräsident, grüßte sie freundlich. Der Jüngere ignorierte sie. „Es ist gut gelaufen, wir haben uns in allen Punkten durchgesetzt“, sagte er zu seinem Begleiter.
Der war weniger euphorisch. „Warten wir ab, was letztlich daraus wird. Ich habe schon Pferde kotzen sehen.“ In ihr Gespräch vertieft, verschwanden die beiden aus ihrem Blickfeld. Erneut wurde die Tür aufgerissen und vor ihr stand der Regierungschef. Er war kleiner, als die Fernsehbilder suggerierten. Auch sah er älter aus. Die Augen, die sie prüfend taxierten, zeugten von zu wenig Schlaf und zu vielen Terminen in stickigen Räumen.
„Sie warten auf mich? Haben wir einen Termin?“
Verena erhob sich und gab ihm die Hand. Sein Händedruck war fest. Sie stellte sich vor und nannte den Grund ihres Besuchs. Begeistert war er nicht. „Warum sprechen Sie nicht mit meinem Staatssekretär? Als Leiter der Staatskanzlei ist er für Personalfragen zuständig.“
Personalfragen? Eine nette Umschreibung für zwei Morde. „Das habe ich bereits. Die beiden Ermordeten waren enge Vertraute von Ihnen.“
„Deshalb weiß ich noch lange nicht, wer sie erschossen hat. Tut mir leid, aber ich kann Ihnen nicht weiterhelfen.“
„Die einzige Verbindung, die wir gefunden haben, ist ihre Tätigkeit in der Staatskanzlei. Wir müssen also
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