Die Stadt der Heiligen (German Edition)
Verhältnis zum Marienstift. Schon mein Vater …»
«Unsinn.» Enno schüttelte entschieden den Kopf. «Reinold war nur zur falschen Zeit am falschen Ort. Sein Geselle wurde erschlagen und trug eine gefälschte Reliquie bei sich. Kurzsichtig, wie diese Dompfaffen sind, haben sie natürlich gleich falsche Schlüsse daraus gezogen.» Er stand wieder auf und ging auf Marysa zu, um ihr die Wange zu tätscheln. «Mach dir keine Sorgen, die Sache wird sich sehr schnell aufklären. Reinold wird schneller wieder bei dir sein, als du glaubst.»
Marysa nickte und senkte den Blick. «Soll ich etwas zu essen auftragen lassen? Gewiss habt Ihr noch nicht gespeist, Herr Schwiegervater.»
«Nein, lass gut sein. Gerharda und ich werden jetzt nach Hause gehen. Und du solltest dich von der Aufregung erholen. Frau Jolánda wird sich doch bestimmt um dich kümmern?» Er warf Marysas Mutter einen kurzen Blick zu, den diese mit einem Nicken beantwortete.
«Aber sicher, Meister Enno. Geht nur nach Hause. Ich werde über Nacht hierbleiben, wenn meine Tochter es wünscht.»
«Gut. Gebt mir Bescheid, sollten heute noch die Männer des Schöffenkollegs hier auftauchen.» Enno winkte seiner Gemahlin, ihm zu folgen, und die beiden verabschiedeten sich.
Kaum war die Tür hinter ihnen zugefallen, setzte sich Jolánda neben Marysa und legte ihr einen Arm um die Schultern. «Was hast du jetzt vor?»
Ratlos hob Marysa die Schultern. «Ich habe keine Ahnung. Reinold will, dass ich herausfinde, warum die Kanoniker ihm die Schuld an Klas’ Tod in die Schuhe schieben wollen.»
«Enno scheint da ja ganz anderer Meinung zu sein», meinte Jolánda.
Marysa fegte einen winzigen Krümel vom Tisch. «Erst konnte ich es mir auch nicht vorstellen, aber je länger ich darüber nachdenke, desto mehr bin ich Reinolds Ansicht. Alles hängt mit dieser gefälschten Reliquie zusammen.»
«Was für eine Reliquie soll das denn überhaupt sein?»
Marysa stand auf und ging zu einem Wandbord, auf dem eine kleine hölzerne Schatulle stand. Sie klappte den Deckel hoch und entnahm ihr ein Reliquiar, das dem, welches Klas bei sich getragen hatte, sehr ähnelte. Sie hielt es ihrer Mutter hin und erklärte: «Diese Reliquiare stellt Reinold massenweise her. Sie sind bei den Pilgern sehr begehrt. Die meisten tragen darin einen Gebetszettel mit sich herum. Einige tun auch kleine Steinchen hinein, die sie auf dem Parvisch oder vor dem Domportal finden.» Sie schwieg kurz. «Klas bewahrte darin einen Splitter vom Fingerknöchelchen des heiligen Germanus samt passendem Gebetsbriefchen auf.»
Jolánda hob die Brauen. «Und woran wollen die Kanoniker überhaupt erkannt haben, dass es sich dabei um eine Fälschung handelt?»
Marysa lächelte schmal. «Das können sie nur, wenn es eine wirklich schlechte Fälschung ist. Scheiffart behauptete, es handele sich um ein Schweineknöchelchen. Wahrscheinlich hatte der Fälscher es nicht richtig getrocknet, und es fing an zu faulen. Oder es sah noch zu neu aus. Leider habe ich es nicht genau ansehen können.»
Jolánda sah ihre Tochter irritiert an. «Woher kennst du dich so gut mit gefälschten Reliquien aus, Kind?»
Marysa setzte sich wieder und spielte mit einem Zipfel des Tischtuches. «Vater hat mir etwas darüber erzählt. Du weißt doch, wie oft ich ihm in seinem Kontor Gesellschaft geleistet habe. Er hat mir den Unterschied zwischen echten und gefälschten Reliquien gezeigt und erklärt.»
Verwundert schüttelte Jolánda den Kopf. «Mir gegenüber hat er niemals dergleichen erwähnt.»
Marysa verzog ihre Mundwinkel erneut zu einem Lächeln, diesmal jedoch zu einem weit heitereren. «Du hast dich ja auch nie wirklich für den Reliquienhandel interessiert. Das ist auch verständlich, denn dieses Geschäft obliegt doch weitgehend den Männern und vorzugsweise den Geistlichen. Aber ich glaube, es hat Vater Vergnügen bereitet, mir ein paar seiner Geheimnisse anzuvertrauen.»
Jolánda fuhr auf. «Willst du vielleicht damit sagen, dass dein Vater auch mit gefälschten Reliquien gehandelt hat?»
Marysa ließ das Tischtuch los und betrachtete eingehend ihre Hände.
«Marysa!» Die Stimme ihrer Mutter verriet deren Entsetzen.
«Mutter, denk doch einmal nach. Vater hat große Summen mit dem Handel von Knochenreliquien verdient. Allein die Fingerknöchelchen, die er verkauft hat, dürften in die Hunderte gehen. Wie viele Finger, glaubst du, hat ein normaler Mensch, auch wenn er ein Heiliger war?»
«Du liebe Zeit!» Jolánda
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