Die Stadt der Heiligen (German Edition)
begleitet, Richtung Marktplatz ging. Dann verschloss sie die Haustür, setzte sich auf einen der Hocker am Arbeitstisch ihres Gemahls und betrachtete die Einzelteile des Schreins, an dem er bis zum frühen Morgen gearbeitet hatte.
In ihrem Kopf summte es wie in einem Bienenstock, und sie war froh, endlich für ein Weilchen alleine zu sein. Zwar hatte Reinold sie gebeten, herauszufinden, wer ihm den Mord an Klas anhängen wollte und weshalb, doch das konnte unmöglich sein Ernst gewesen sein. Wie in Gottes Namen sollte sie das denn anstellen? Meister Enno würde sich darum kümmern. Er kannte sich im Stadtrat und mit den Schöffen aus und war auch in den Gesetzen einigermaßen bewandert. Er würde wissen, was zu tun war.
Marysa stützte das Kinn in ihre rechte Hand und ließ ihren Blick durch die Werkstatt wandern. Die Wände wurden von Borden gesäumt, auf denen die verschiedenartigsten Reliquiare und Schreine ausgestellt waren. Darunter standen an zwei Seiten lange Arbeitsbänke, über denen an Haken und Ösen unzählige Werkzeuge hingen. Die Tür zu dem kleinen Lagerraum stand halb offen. Dort bewahrte Reinold die Materialien für seine Schreine auf – Holz, Messingscharniere, Farben, Blattgold, einen Kasten mit Pilgerabzeichen für die Kunden, die ein solches auf ihrem Schrein angebracht haben wollten, und noch einiges mehr.
Auf einer Seite des Raumes warteten die fertigen Schreine und Reliquiare in Regalen und auf einem Tisch darauf, von ihren neuen Besitzern abgeholt zu werden.
Obwohl sie es für überflüssig hielt, stand Marysa auf und machte einen Rundgang durch die Werkstatt und den Lagerraum. Sie öffnete einige Schreine, schaute in Kisten und Truhen, schob die Ausstellungsstücke auf den Borden hin und her und vergewisserte sich, dass hier tatsächlich nicht eine einzige Reliquie zu finden war.
Kurz kam ihr der Gedanke, dass Reinold in der vergangenen Nacht allein in der Werkstatt gewesen war, doch sie verwarf ihn gleich wieder. Er hatte, wie sie genau sehen konnte, an dem Schrein auf dem Tisch gearbeitet. Und wenn sie auch wenig Zuneigung zu ihrem Gemahl empfand, so wusste sie doch recht genau über ihn Bescheid.
Er war ein passabler Schreinbauer und damit durchaus konkurrenzfähig unter seinesgleichen. Doch für Geschäfte, die darüber hinausgingen, hielt sie ihn einfach für zu träge. Sie fand es schade, dass all die guten Geschäftskontakte, die ihr Vater in vielen Jahren harter Arbeit aufgebaut hatte, nun wieder zerfielen. Gotthold Schrenger hatte eine Menge Zeit und Mühe investiert, um Geschäfte mit Reliquienhändlern aus den entferntesten Ländern einzufädeln. Und er hatte sehr spezielle Quellen für Heiltümer aus den Ländern im Osten, die er nach Aachen bringen ließ, um sie den zahlreichen tschechischen und ungarischen Pilgern zu verkaufen, die auch außerhalb der Heiltumsfahrt hierherströmten. Auf diesem Wege hatte er vor nicht ganz zwanzig Jahren den ungarischen Reliquienhändler Bernát Kozarac kennengelernt und zur Besiegelung der guten Geschäftsverbindung dessen zwar erst vierzehnjährige, dafür aber bildhübsche Tochter Jolánda geheiratet. Trotz des enormen Altersunterschieds von achtunddreißig Jahren war die Ehe sehr harmonisch verlaufen. Gotthold hatte sein Püppchen, wie er Jolánda liebevoll genannt hatte, mit den schönsten Kleidern und wertvollem Schmuck verwöhnt. Und sie hatte es ihm mit Fürsorge und liebevoller Freundlichkeit gedankt, mit ihrem aufbrausenden Temperament aber auch seinen Haushalt auf den Kopf gestellt. Sie hatte sich um Aldo, Gottholds Sohn aus erster Ehe, gekümmert und nach knapp einem Jahr eine Tochter geboren, deren Äußeres wie auch Verstand eine interessante Mischung aus beiden Elternteilen geworden war.
Marysa dachte mit Wehmut an ihren Vater. Er hatte ihr mit Strenge und Unerbittlichkeit die Grundlagen des Reliquiengeschäfts beigebracht, aber auch immer wieder betont, wie sehr er sich darüber freute, dass sie seine Interessen teilte und ihm im Kontor zur Hand ging. Aldo hätte natürlich das Geschäft einmal übernehmen sollen, doch Marysas Geschick in kaufmännischen Angelegenheiten, ihr heller Verstand und die Tatsache, dass sie neben dem Deutschen auch das Ungarische fließend sprach, ließen ihn hoffen, dass sie eines Tages einen guten Mann finden würde, der ihre Talente zu schätzen wusste.
Nun jedoch hatte sie sich aus der Not heraus einen Gemahl erwählt, der sie ans Haus und den Handarbeitskorb kettete und keinerlei Wert
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