Die Stadt der Heiligen (German Edition)
es sei schon später am Tag.
Vor zwei Stunden hatte das offizielle Ritual der Schreinsöffnung im Dom begonnen; gerade rechtzeitig am Vortag war Johann, der Bischof von Lüttich, in der Stadt eingetroffen und hatte in einem hastigen und dennoch beeindruckenden Akt den Bann, der seit dem Mord auf dem Münster gelegen hatte, aufgehoben. Christophorus hatte der Prozedur und der anschließenden Messe, die von einem der Kanoniker gehalten worden war, beigewohnt. Anschließend war er dem Bischof kurz vorgestellt worden, der jedoch denkbar schlechter Laune gewesen war. Christophorus konnte es ihm nicht verübeln. Sicherlich hatte sich Johann, der als Fürstelekt keine höheren Weihen besaß, seinen Auftritt in Aachen während der Heiltumsweisung anders vorgestellt. Er wäre zur Kirchweihe am 17. Juli in seiner prunkvollen Sänfte mit seinem Gefolge eingetroffen, hätte eine Prozession angeführt und sich sowohl als kirchlicher als auch als weltlicher Herrscher feiern lassen. Nun jedoch war er vorzeitig und in aller Eile nach Aachen geritten, um die Heiltumsweisung zu retten. Und das nur, weil irgendein kleiner Handwerkergeselle die Dummheit besessen hatte, sich vor dem Marienaltar erschlagen zu lassen.
Als Johann erfahren hatte, dass man den Mörder noch nicht gefasst hatte, war er erst recht verschnupft gewesen.
Christophorus zuckte zusammen, als vom Rathaus her plötzlich ein lautes, vielstimmiges Hornsignal erschallte, das sich, begleitet vom lauten Jubel der Pilger, irgendwo in der Nähe fortsetzte. Er wich zurück, denn eine große Gruppe fremdländischer Pilger stürmte an ihm vorüber in Richtung Rathaus. Auch etliche Marktbesucher und sogar Kaufleute ließen alles stehen und liegen und folgten dem Hörnersignal.
«Freiheit! Freiheit zur Kirmes!», hörte er die Menschen rufen. Der Jubel brandete erneut auf und setzte sich quer über den Marktplatz fort. Im selben Moment begann es, heftig zu regnen.
***
«Verflucht noch eins! Ausgerechnet jetzt fängt es an zu regnen. Kommt, Herrin, wir sollten in das Wirtshaus gehen, bis der Schauer vorüber ist.»
Marysa folgte ihrem Knecht im Laufschritt die letzten Schritte bis zum Goldenen Ochsen und atmete auf, als sie endlich ein Dach über dem Kopf hatte. Sie waren auf dem Weg zu Meister Goldschlägers Haus, denn er hatte sie und ihre Mutter, ja, die gesamte Familie zu einem späten Mittagsmahl eingeladen, um die Ehre zu feiern, die ihm beim Ritual der Schreinsöffnung zuteilgeworden war. Reinold war schon vor über einer Stunde aufgebrochen, da er, wie er behauptete, vorher noch zwei Schreine an das Marienstift liefern wollte. Marysa hielt das jedoch für eine Ausrede, da an einem wichtigen Tag wie heute bestimmt keiner der Kanoniker Zeit haben würde, Reliquiare in Empfang zu nehmen. Marysa argwöhnte, dass Reinold beim Domkapitel herumschnüffeln wollte.
Sie selbst hatte gewartet, bis aus der Ferne das Tönen der Hörner zu vernehmen gewesen war, mit dem die Stadt die Freiheit ausblasen ließ. Von jetzt an bis zum 24. Juli, dem Ende der Kirmes, ruhte die allgemeine Gerichtsbarkeit in Aachen. Verbannte durften die Stadt während dieser Zeit betreten, und kleinere Missetaten wurden von der Obrigkeit nicht geahndet.
Leider waren sie nun von dem Regenguss überrascht worden und würden warten müssen, bis er nachließ, wenn sie trockenen Fußes bei Meister Goldschläger ankommen wollten. Als Marysa sich in der gutbesuchten Gaststube umsah, erblickte sie an einem der Tische in der Nähe Bruder Christophorus, der sie anscheinend schon eine Weile beobachtet hatte und ihr nun winkte, sich zu ihm an den Tisch zu setzen.
Um nicht unhöflich zu wirken, folgte sie seiner Aufforderung und ließ sich ihm gegenüber nieder. Grimold blieb in wenigen Schritten Entfernung stehen und wartete.
«Ihr speist nicht mit Euren Mitbrüdern in der St. Jakobstraße?», wollte sie wissen.
Christophorus schüttelte den Kopf. «Heute nicht. Allerdings war ich auf dem Weg dorthin, als der Regen losbrach.»
«Uns erging es ähnlich. Wir wollen zum Haus meines zukünftigen Stiefvaters.»
«Ah, zu Meister Goldschlägers Haus?»
Marysa sah ihn verblüfft an. «Woher wisst Ihr das?»
Er lächelte. «Das war nicht schwer zu erraten. Bei unserem letzten Zusammentreffen konnte ich die Blicke, die Eure Mutter und der Goldschmied einander zuwarfen, schwerlich übersehen.»
«Ihr seid ein scharfer Beobachter, Bruder Christophorus.»
«Das bringt das Leben als Ablasskrämer so mit sich», sagte er.
Weitere Kostenlose Bücher