Die Stadt der Könige: Der geheime Schlüssel - Band 2 (kostenlos bis 14.07.2013) (German Edition)
zur Straße ließ sie jedoch zu. Sie zog sogar die Vorhänge dichter zusammen und schloss alle Türen zu den Räumen, die auf die Straße hinaus zeigten. Dennoch drang die schlechte Energie, die die Stadt schon seit Monaten in Atem hielt, durch jede Tür und jede Ritze. Männer in schweren Stiefeln, mit verkniffenen, harten Gesichtern, gingen tagtäglich ein und aus und vergifteten die Luft mit ihrem säuerlichen Atem und ihrer bellenden Sprache, die an knurrende Wölfe erinnerte.
Elfrieda trieb die Mädchen an die Arbeit. Sie hatte dem muffigen, feuchten Winter den Kampf angesagt. Die Teppiche mussten hinaus in den Garten gebracht werden, damit sie ausgeklopft werden konnten. Vorhänge verließen ihren Platz an den Stangen über den Fenstern und wanderten in die Waschküche. Bücher und Schränke wurden abgestaubt, die Holzböden mit Bürsten geschrubbt und über allem lag der milde Duft des Frühlings.
Wieder klirrten die Sporen auf den Steinfliesen im Arkadengang. Mehrere Männer polterten durch die ehemals so ruhigen Flure des Archieristos.
Noch vor einem Jahr war hier nicht mehr, als das leise Dahinhuschen der Mönche und Kirchendiener zu hören gewesen. Gesprochen wurde im Flüsterton, und wenn doch einmal lautere Töne zu hören waren, dann waren es die herzerhebenden Stimmen der Choralsänger, die zur Freude des Herren und zum Wohlgefallen aller Menschen, Gott priesen.
Elfrieda war nicht so gottesfürchtig, wie sie es hätte sein sollen, als oberste Hausdienerin im wichtigsten Hause Gottes. Im Zentrum der Kirche. In dem Haus, von dem aus der Archiepiskopos die Gesamtheit der ardelanischen Kirche leitete. Aber das war ein Geheimnis, dass nur sie selbst kannte. Sie hatte sich im Laufe ihrer siebzehn Dienstjahre angewöhnt ihre Hände bescheiden im Schoß zu falten, wenn es tatsächlich einmal vorkam, dass sie keine andere Beschäftigung für sie fand. Bei den Messopfern, die sie täglich besuchte, kniete sie mit dem gesenkten Kopf, einer reuigen Sünderin, aber ihre Gedanken flogen frei wie die Möwen im Wind und ließen sich nicht durch das rituelle Gemurmel, in den bedrückenden, steinernen Mauern einer Kirche einfangen.
Als sie den nächsten Raum betrat, stoben zwei Mädchen auseinander, die kichernd ihre Köpfe zusammengesteckt hatten. Elfrieda musterte sie streng, sagte aber nichts, sondern drückte der einen nur stumm ein Poliertuch in die Hand und scheuchte sie in den Speiseraum, wo sie die silbernen Kerzenleuchter putzen sollte. Sie spürte den wütenden Blick, den das Mädchen ihr zuwarf, bevor die Tür hinter ihr zufiel, aber in einem so großen Haus konnte sie es nicht dulden, dass sich Müßiggang einschlich. Sie selbst arbeitete von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. So war es schon gewesen, als sie noch weit oben im Norden gelebt hatte, nahe der Mündung des Engelsflusses in den Engelsee.
Der würzige Geruch des Meeres stieg ihr in die Nase. Sie verharrte einen Augenblick vor dem hohen, schmalen Fenster und schaute hinaus auf die endlose, blaue Weite.
In dem kleinen Dorf in dem sie ihre Kindheit verbracht hatte, war am Ende des Lenzmondes noch nicht viel von der Milde des Frühlings zu spüren gewesen. Dort waren die Bäume noch mindestens einen ganzen Monat kahl und ein gelegentlicher Schneeschauer war sogar im Wonnemond keine Seltenheit.
Wenn sie daran dachte, und das tat sie mindestens einmal in jedem Frühjahr, kam es ihr vor, als würde sie auf das Leben einer anderen zurücksehen. Auf das Leben eines kleinen, schmalbrüstigen Mädchens, das nichts von der Welt kannte, als die Abgeschiedenheit des Dorfes in dem es lebte.
Elfrieda erinnerte sich noch gut an den beißenden Wind, der von Norden ungebremst über die Felder und Wiesen fegte, auf denen sie die Schafe ihres Vaters hütete. Und sie erinnerte sich auch noch an ihre Gedanken, die ebenso frei und zügellos wie der Wind ihre Seele beflügelten. Ihr Vater war ein angesehener Mann im Ort gewesen. Wahrscheinlich der einzige, außer dem Priester, der eine Abschrift des heiligen Buches besaß. Elfrieda kannte die Worte aus diesem Buch in und auswendig, denn Abend für Abend las der Vater stockend einige Zeilen daraus vor, ehe sich die Familie zum Essen hinsetzte. Als sie größer wurde, nahm sie das Buch während der kalten, langen Winterabende, von seinem angestammten Platz hoch oben im Geschirrschrank neben den Sonntagstellern und betrachtete die geschwungenen Zeichen. Mit einem Stück Kohle begann sie sie abzumalen und prägte
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