Die Stadt der Könige: Der geheime Schlüssel - Band 2 (kostenlos bis 14.07.2013) (German Edition)
warm. Sie blieb stehen und ließ es den Rücken hinuntergleiten, bis es nur noch in ihrer Armbeuge hing, dabei betrachtete sie die Trauerweide, die langsam ihre Äste wiegte. Da, wo sie den Teich berührten, kräuselten kleine, kreisförmige Wellen das Wasser. Vorsichtig näherte Phine sich dem Ufer, zog mit einer Hand das Tuch aus ihrer Armbeuge und breitete es im Halbschatten des Baumes auf dem Boden aus. Darauf legte sie das schlummernde Kind und setzte sich daneben. Sie ließ ihre Gedanken treiben. Diese kamen und gingen mit der sanften Briese des Windes.
Erst lauschte sie nur dem Singen der Vögel, eingebettet in die Geräusche der Stadt. Dann hörte sie das Flüstern der Blätter und das Murmeln des Wassers, den wispernden Wind und den ruhigen Atem von Lume´tai. Sie glaubte sogar, den fernen klaren Ton der Sonne zu vernehmen. Glockenhell widerhallte er auf der Oberfläche des Teiches. Ton um Ton entwickelte er sich weiter, fand ein leises Echo in den Unebenheiten des Wassers und schwoll an zu einer alles erfassenden Symphonie.
Josephine ließ sich von ihm treiben, sank in ihn ein, bis sie schwerelos in Licht gebettet, von diesem Ufer fort trieb, zu Orten, an denen sie vorher noch nie gewesen war. Von einer hohen Warte sah sie über ein Meer aus Bäumen, das an gelbe und grüne Felder brandete. Sie betrachtete den fernen blauen Ozean, der sich bis in die Unendlichkeit erstreckte. Im Süden sah sie eine schier unüberwindliche Bergkette, und als sie ihr geistiges Auge daran entlang gleiten ließ, erkannte sie die Stätte ihrer Kindheit. Der Anblick der vertrauten Berge über den Dächern der Stadt versetzte ihr einen bittersüßen Stich. Sie riss sich los, von diesem irdischen Schmerz und wandte ihren Blick nach Norden, bis ins ewige Eis und nach Westen über das Kaisergebirge. Sie sah in fremde Länder, die in zermürbende Kriege um Vorherrschaft und Macht verwickelt waren und in denen das Elend der Menschen niemanden mehr berührte. Dann zog sie ihr Auge wieder zurück und erkannte finstere Wolken auch diesseits der Berge. Sie erstickten das Leben und saugten seine Energie.
In den Quellenbergen schienen ihr die Wolken am dunkelsten. Als sie sich hin tastete, spürte Nate´re die Nähe ihrer geistigen Schwestern Destina´riu – das Schicksal – und Varsa’ra – der Tod –, die dort viel zu oft gebraucht wurden. Doch Nate´re war das Leben. Sie sammelte das Licht um sich und die goldenen Sonnenstrahlen folgten ihr wie Krieger in die Schlacht. Licht musste unter die Nebel gebracht werden und Wind. Die Schatten flohen in alle Himmelsrichtungen und versteckten sich in Nischen und Ritzen. Jetzt war es wieder hell in den Quellenbergen und die Sonne spiegelte sich in unzähligen Bächen und Rinnsalen.
Erschöpft sank sie nieder. Sie lag wieder am Teich unter der Weide. Der Wind flüsterte in den Blättern und Lume´tai atmete gleichmäßig. Nate´re spürte die Bewegung des Wassers, als ob es sie umspülen würde und immer noch klang die Musik des Lichts in ihren Ohren.
„Ich danke dir, dass du mir den Weg zu meinem Herzen geöffnet hast“, murmelte da eine angenehme Stimme an ihrem inneren Ohr.
Es klang, als hätte das Wasser selbst zu ihr gesprochen, trotzdem erschien die Stimme gegenständlicher.
Sie kannte diese Stimme, wie sie jede andere Stimme auf der Welt kannte, denn sie war dabei gewesen, als das Wesen, dem sie gehörte, seinen ersten Atemzug getan hatte. Das war vor tausendvierhundertdreiundachtzig Jahren auf der Warte gewesen.
„Ala´na, nannten dich deine Eltern“, stellte sie fest. „Du befindest dich an einem Ort, der dir nicht bestimmt ist, Ala´na.“
„Es ist der einzige Ort, der mir geblieben ist. Als mein Herz fort ging, begab ich mich ins Wasser, um bei ihm sein zu können. Doch erst jetzt, dank deiner Hilfe, kann ich ihn wieder spüren.“
„Geh zurück in dein Leben, Ala´na. Geh zurück in deinen Körper. Er schwindet, wenn du ihn nicht bewohnst.“
„Ich kann es nicht …“
„Mama! Mama!“ Phine wurde kräftig an den Schultern geschüttelt und schlug die Augen auf. „Wir dachten, du bist tot.“ Zwei Paar kugelrunde Kinderaugen sahen sie groß an. Sie streckte die Arme aus, nahm jeden der Zwillinge in einen Arm und drückte sie an ihre Brust.
„Ich dachte , ihr spielt mit Reiner“, sagte sie tadelnd und gab ihnen einen Kuss auf die Schläfe.
„Wir sind abgehauen“, erklärte Jaden stolz.
„Wir spielen gerade Verstecken“, meinte Jaris.
„Aber ihr dürft
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