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Die Stadt der Singenden Flamme - Die gesammelten Erzaehlungen - Band 1

Die Stadt der Singenden Flamme - Die gesammelten Erzaehlungen - Band 1

Titel: Die Stadt der Singenden Flamme - Die gesammelten Erzaehlungen - Band 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clark Ashton Smith
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mit ihrem rostbraunen Haaren und blauschwarzen Augen wirkte sie wie eine Erscheinung, die vom Mond herabgestiegen sein musste. Er wusste kaum, ob er eine Göttin, einen Geist oder eine Frau vor sich hatte, da war sie schon flink an ihm vorbeigeglitten und verschwunden: Ein Geschöpf aus Schnee und Nordlicht, mit Augen gleich mondhellen Teichen und Lippen, auf denen die gleiche Blässe lag wie auf Stirn und Busen. Ihr Gewand bestand aus einem duftigen weißen Gewebe, so rein und ätherisch wie sie selbst.
    Voller Staunen, das sich zu bestürzter Verzückung steigerte, starrte Tortha auf das wunderbare Geschöpf. Einen Moment lang ertrug er das seltsam prickelnde Leuchten ihrer eisigen Augen, in denen er ein dunkles Erkennen zu entdecken meinte, so, als offenbarte sich endlich eine lang verborgene Gottheit und neigte sich huldreich zu ihrem Anbeter nieder.
    Auf unbestimmte Weise schien sie die heilige Abgeschiedenheit weit entlegener Orte, die tief tote Stille einsamer Hochebenen und Bergspitzen mit sich zu bringen. Ein Schweigen, wie es in einer verlassenen Stadt hausen mochte, legte sich über das schachernde, schwatzende Volk, als sie vorüberzog – und die Menschen wichen in jäher Ehrfurcht vor ihr zurück. Noch ehe das Schweigen in flüsterndes Getratsche umschlagen konnte, hatte Tortha erraten, wer sie war.
    Er wusste, dass er die Weiße Seherin erblickt hatte, jenes geheimnisvolle Wesen, von dem man raunte, es erscheine und gehe wie durch Zaubermacht in den Städten Hyperboreas. Kein Mensch hatte jemals ihren Namen in Erfahrung gebracht, aber man sagte ihr nach, sie stiege wie ein Geist von den kahlen Bergen im Norden Cerngoths herab – aus der Eiswüste Polarions, wo die Gletscher sich durch Täler wälzten, in denen einst Farne und Palmen grünten, und über Pässe, die einst belebte Verkehrsadern gewesen waren.
    Niemand hatte es jemals gewagt, sie anzusprechen oder ihr zu folgen. Oftmals kam und ging sie schweigend – doch manchmal stieß sie auf den Märkten und den öffentlichen Plätzen rätselhafte Weissagungen und Verdammungen aus. An vielen Orten in ganz Mhu Thulan und im hyperboreischen Hauptland hatte sie die gewaltige Eisdecke vorhergesagt, die jetzt langsam vom Pol herabkroch und den Kontinent in künftigen Zeitaltern überziehen und die Mammutpalmen seiner Urwälder und die glänzenden Dächer ihrer Städte unter einer winterlichen Lava des Vergessens begraben würde. Und im großmächtigen Commoriom, der damaligen Hauptstadt, hatte sie ein noch fremdartigeres Verhängnis geweissagt, dem diese Stadt lange vor dem Herannahen des Eises anheimfiele. Männer fürchteten sie allerorts als Botin unbekannter, auswärtiger Götter, die voll unirdischer Unheilsmacht und Schönheit in fernen Ländern verkehrte.
    All dies hatte Tortha häufig gehört. Und obwohl er sich ein wenig über die Geschichte wunderte, hatte er sie bald aus dem Gedächtnis verloren, das voller fantastischer Erinnerungen an außergewöhnliche Dinge war. Nun jedoch, da er die Seherin erblickt hatte, glaubte er an eine Offenbarung, die ihm unerwartet zuteil geworden war – so als hätte er, flüchtig und fern, das verborgene Ziel einer mystischen Pilgerfahrt erschaut.
    Jener eine, flüchtige Anblick war ihm als die Verkörperung all der unbestimmten Idealvorstellungen und unklaren Sehnsüchte erschienen, die ihn von Land zu Land getrieben hatten. Hier war sie, die schwer fassbare Fremdartigkeit, die er bei exotischen Frauen und an fernen Küsten und hinter Vulkanketten gesucht hatte, die den Horizont entflammten, und derer er doch nie habhaft geworden war. Hier lebte der verborgene Stern, dessen Namen und Glanz er nie kennengelernt hatte. Die mondkalten Augen der Seherin hatten eine seltsame Liebe in Tortha entfacht, für den Liebe bisher nicht mehr gewesen war als ein kurzlebiger Aufruhr der Sinne.
    Dennoch kam ihm bei jener Gelegenheit kein Gedanke daran, der Erscheinung zu folgen oder mehr über sie in Erfahrung zu bringen. Fürs Erste gab er sich mit dem raren Traumbild zufrieden, das seine Seele in Flammen gesetzt und seine Sinne verstört hatte. Und gefangen in Träumen, wie der Mond sie der Motte eingeben mag – in Träumen, welche die Seherin gleich einer Flamme in Frauengestalt auf Wegen durchzog, die zu weit und zu steil für Menschensohlen waren –, kehrte er in sein Haus in Cerngoth zurück.
    Die folgenden Tage verbrachte Thorta wie in einem dämmrigen Traum, beherrscht von seiner Erinnerung an die weiße Erscheinung.

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