Die Stadt der Singenden Flamme - Die gesammelten Erzaehlungen - Band 1
sorgsam wählen und mit äußerster Vorsicht niederschreiben. Dies wird der letzte Eintrag in meinem Tagebuch sein und das Allerletzte, was ich je schreiben werde. Wenn ich damit fertig bin, werde ich das Tagebuch einpacken und an Philip Hastane schicken. Er mag dann damit anstellen, was er für richtig hält.
Heute nahm ich Ebbonly mit in die jenseitige Dimension. Von den beiden Findlingen auf Crater Ridge zeigte er sich ebenso beeindruckt wie ich selbst es beim ersten Mal war.
»Sie sehen aus wie die Stümpfe eingestürzter Säulen«, meinte er, »von irgendwelchen Göttern in grauer Vorzeit errichtet. So langsam fange ich an, Ihnen zu glauben.«
Ich sagte ihm, er solle als Erster gehen, und zeigte ihm die Stelle, auf die er zulaufen musste. Er tat es, ohne zu zögern, und ich machte die einzigartige Erfahrung, einen Menschen einfach so wegschmelzen zu sehen. Es war die Sache eines Augenblicks, nichts blieb zurück. Im einen Moment war Ebbonly noch da – und im nächsten sah ich nur noch den kahlen Boden und in der Ferne ein paar Lärchen, deren Anblick sein Körper bislang verdeckt hatte. Ich folgte ihm und fand ihn sprachlos, voller Ehrfurcht auf dem violetten Gras stehend wieder.
»Dies«, sagte er schließlich, »ist etwas, was ich bislang nur vermuten konnte, aber selbst in meinen fantasievollsten Entwürfen noch nicht einmal anzudeuten vermochte.«
Wir sprachen wenig, während wir der Allee aus Findlingen zur Ebene hin folgten. In der Ferne, weit hinter den hohen, majestätischen Bäumen mit ihrem üppigen Blätterdach hatten sich die goldbraunen Nebelschwaden gelichtet, um den Ausblick auf einen unermesslichen Horizont freizugeben. Jenseits dieses Horizonts erstreckten sich Ansammlungen funkelnder Himmelskörper, die sich als winzige, feurige Punkte am bernsteinfarbenen Firmament verloren. Es war, als habe jemand den Schleier vor einem unbekannten Universum zurückgezogen.
Wir überquerten die Ebene und schließlich gelangten wir in Hörweite des Sirenengesangs. Ich ermahnte Ebbonly, sich die Ohren mit Watte zu verstopfen, doch er lehnte das ab und meinte nur: »Eine neue Empfindung, die mir zuteil wird, möchte ich nicht irgendwie abschwächen.«
Als wir die Stadt betraten, war mein Gefährte außer sich. Als Künstler geriet er ins Schwärmen, als er die gewaltigen Bauwerke und deren Bewohner erblickte. Außerdem wurde mir klar, dass er dem Zauber der Musik erlegen war. Es dauerte nicht lange, und sein Blick wurde starr und verträumt, so als habe er Opium genossen.
Anfangs machte er ständig Bemerkungen über die Architektur und die diversen Wesen, die an uns vorübergingen, und lenkte meine Aufmerksamkeit auf Details, die ich zuvor nicht wahrgenommen hatte. Je näher wir jedoch dem Tempel der Flamme kamen, desto mehr schien sein Interesse an seinen Beobachtungen zu schwinden, desto verzückter wirkte er. Seine Kommentare wurden kürzer und dürftiger, bis er schließlich vollkommen in sich versunken schien und nicht einmal mehr meine Fragen hörte. Es war offensichtlich, dass er völlig dem Bann der Musik verfallen war.
Wie bei meinem vorherigen Besuch war eine Vielzahl an Pilgern unterwegs zu dem Schrein – und nur wenige kehrten zurück. Bei den meisten davon handelte es sich um evolutionäre Spielarten, die ich auch zuvor schon gesehen hatte. Unter denjenigen, die mir noch fremd waren, ist mir eine wundervolle Kreatur im Gedächtnis geblieben mit himmelblauen und goldenen Schwingen wie ein riesenhafter Schmetterling, die Augen juwelengleich schimmernd, dazu geschaffen, die Pracht einer paradiesischen Welt widerzuspiegeln.
Wie zuvor empfand auch ich den trügerischen Zauber, die Gewalt, die schleichend, heimtückisch meine Gedanken, ja, selbst mein Unterbewusstsein durchdrang, so als wirke die Musik wie ein Alkaloid, das sich in meinem Gehirn breitmachte. Da ich meine übliche Vorsichtsmaßnahme getroffen hatte, war ich ihrem Einfluss bei Weitem nicht so sehr ausgesetzt wie Ebbonly; dennoch war diese Macht stark genug, um mich eine ganze Anzahl von Dingen vergessen zu lassen – darunter die anfängliche Sorge, die ich empfunden hatte, als mein Gefährte es ablehnte, die gleiche Vorkehrung zu ergreifen wie ich. Ich dachte einfach nicht länger daran, dass es sowohl für ihn als auch für mich gefährlich werden könnte. Dies schien jetzt etwas sehr Fernes und Unwesentliches.
Die Straßen waren ein albtraumhaftes, verwirrendes Labyrinth. Doch zielstrebig folgten wir der Musik und waren
Weitere Kostenlose Bücher