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Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)

Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carrie Ryan
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sein Gesicht sehe. Es ist der Junge, der aus den Neverlands, der vom Ufer, der nicht mit mir kommen wollte. Schaudernd schaue ich ihn an, ich wünschte, ich hätte mich mehr bemüht, ihn in jener Nacht zu überzeugen. Ich hatte die Chance gehabt, ihn zu retten, und habe es nicht getan.
    Die Frau humpelt auf die andere Seite des Käfigs, und als es so aussieht, als ob die Ungeweihten sich mehr für mich interessieren, lässt sie sich langsam auf den Boden gleiten. Sie zieht sich das Gewand über die Knie und schlingt die Arme fest um die Beine. Klein sieht sie aus und hilflos, Schweiß tropft ihr vom kurzgeschnittenen Haar. »Wie heißt du?«, fragt sie mich. Sie klingt erschöpft. Mehr als bereit, dies alles enden zu lassen.
    »Annah«, sage ich leise.
    Sie nickt. »Ich bin Dove.« Sie hebt einen schlaffen Finger und zeigt auf die beiden Ungeweihten. »Und das sind Noell und Jonah. Sie sind …« Sie fährt sich mit der Hand übers Gesicht und hinterlässt eine Blutspur auf derWange. »Sie waren …« Sie zögert, sucht nach dem richtigenWort. »Freunde.« Ihre Stimme versagt.
    Ich wende den Blick ab, ich ertrage diesen Ausdruck desVerlusts auf ihrem Gesicht nicht. »Tut mir leid«, sage ich, doch das reicht nicht.Wahrscheinlich gibt es keineWorte für einen Moment wie diesen. Die beiden Ungeweihten rütteln am großen Käfig, wollen an mich heran und an das nicht infizierte Blut, das mir langsam über den Arm läuft.
    Die Frau schnieft und wischt sich die Augen. »Sie haben es gewollt, glaube ich.« Sie lehnt den Kopf zurück, als ob sie den Himmel sehen könnte, wenn sie sich nur genug anstrengen würde. »Sie sind Soulers. Na ja, ich war wohl auch ein Souler.« Sie seufzt, dann hustet sie, und ich bemerke, dass ihre Lippen rot verschmiert sind. Wie viel Zeit mag ihr noch bleiben, bis sie entweder ausgeblutet ist oder bis ihr geschwächter Körper der Ansteckung erliegt?
    »Sie dachten, es wäre das ewige Leben. Die Wiederauferstehung.« Sie schließt die Augen. »Ist das nicht dumm?«
    »Ist es nicht«, sage ich. Sie schaut zu mir, offensichtlich glaubt sie mir nicht. »Also, ich habe auch darüber nachgedacht, früher. Ob da nicht doch mehr dran ist.«
    »Ist es nicht«, erwidert sie sachlich. »Noell war mein Mann. Er war derjenige, der wirklich an all das geglaubt hat. Es ist nichts mehr von ihm übrig in seinem Inneren. Ich würde es wissen, wenn es anders wäre.« Ihre Stimme klingt so platt, so leblos . A ls ob alles gestorben wäre, woran sie je geglaubt hat.
    Ich will ihr etwasTrost zusprechen. »Da könnte doch immer noch etwas sein …« Ich ringe nachWorten, aber am Ende biete ich doch nur ein lahmes »Mehr« an.
    Sie zuckt mit den Schultern, widerspricht jedoch nicht.
    »Wie lange bist du schon hier?«, frage ich. Doch ich bin mir nicht sicher, ob ich die Antwort wissen will.
    »Wochen? Ich weiß es nicht. Spielt auch keine R olle. Noell und ich waren unten in Vista, als es Aufruhr gab in der Stadt. Sie wollten uns unsereToten nicht behalten lassen, und die R ekruter hatten versprochen, uns zu beschützen.« Sie lacht leise. »Sie haben uns hierhergebracht. Uns eingepfercht. Seitdem töten sie uns nach und nach. Es gibt nicht genug zu essen für uns alle … und nicht genug Unterhaltung für sie.« Sie wartet einen Moment, bevor sie hinzufügt: »Vermutlich habe ich Glück gehabt, dass sie mich einfach hier hineingeworfen und mir sonst nichts weiter angetan haben.«
    Wochen. Ich drücke die Stirn auf den Boden meines Käfigs.Von den Kämpfen hatte ich gewusst, wozu die R ekruter fähig waren. Ich hatte gewusst, dass die Soulers zum R einigen der Ufer benutzt wurden. Wie viele Leute hatten leiden müssen, weil ich nichts getan hatte?
    Ich war zu eigennützig. »Das tut mir leid«, sage ich wieder.
    Sie beobachtet ihren stöhnenden Ehemann. »Spielt keine R olle, es ist bald vorbei.Wenn irgendwas dran ist an ihrem Glauben an die Auferstehung, dann werde ich ja doch wieder mit ihnen zusammen sein können. Und wenn nicht …« Sie schließt die Augen, und ihre Finger zittern, als sie sich eineTräne von derWange wischt.
    EineWeile sitzen wir schweigend da.
    Schließlich sagt sie: »Glaubst du, dass die Menschen vor der R ückkehr auch so grausam waren?«
    Die Frage überrascht mich. »Das weiß ich nicht.«
    »Das Leiden macht ihnen so viel Freude. Ich verstehe das nicht.«
    Ich schlucke und schaue auf meine Hände. »Ich auch nicht. Vielleicht verstehen sie es selbst nicht.«
    »Vielleicht«, sagt sie.

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