Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)
… du bist nicht aus dem Dorf?« Ich versuche mir vorzustellen, wie er ausgesehen haben mag, als wir klein waren . A ls Elias, Abigail und ich in den Feldern Fangen gespielt haben. Ich kann mich an keinen in unserem Alter erinnern, der Catcher hieß. Und das macht mich unruhig.Woher sollte er meine Schwester denn sonst kennen?
Catcher setzt sich anders hin. »Ich habe dir doch erzählt, ich bin aus Vista. Nicht aus deinem Dorf.« Seine Stimme wird von der Wand zurückgeworfen, er scheint sich von mir abgewandt zu haben. »Sie heißt jetzt Gabrielle – Gabry.«
Der Boden unter meinen Fingerspitzen ist dreckig, voller Sand und Staub. Die Luft hier unten schmeckt abgestanden und alt, wir scheinen dieVergangenheit gestört zu haben. Ich kneife die Augen zu und versuche, all dieseTeile zusammenzufügen. »Das verstehe ich nicht.«
»Ihre Mutter hat sie imWald gefunden, als sie klein war. Sie konnte nicht sprechen, sie wusste nicht mehr, wie sie hieß . A lso hat ihre Mutter sie Gabrielle genannt und sie in Vista aufwachsen lassen, am Meer, südlich von hier. Gabry wusste das nicht mehr, sie hat sich erst wieder an denWald erinnert, als ihre Mutter ihr vor ein paar Monaten alles erzählt hat.«
Ich will nicht daran denken, wie wir Abigail damals imWald zurückgelassen haben, aber als er davon spricht, sehe ich das Blut wieder an ihrem Bein herunterlaufen. Sie hat so darum gebettelt, dass Elias und ich nicht ohne sie gehen sollten. Sie hatte solche Angst, und ich habe sie einfach da sitzen lassen . A llein, mitten auf dem Pfad.
Mein ganzes Leben lang taucht dieser Augenblick immer wieder in meinen Albträumen auf – dazu die Geräusche der Ungeweihten, die ihretwegen an den Zäunen rütteln, und der Geruch von Elias’ Angst und Entschlossenheit.
Das hat mich verfolgt. Das hat mich gequält. Und es hat mich geprägt. Ich bin das Mädchen, das ihre Schwester imWald derTausend Augen zurückgelassen hat.
Nie habe ich gewusst, ob sie gestorben war – durch meine Schuld – oder denWeg nach Hause gefunden hatte.Tag fürTag,Woche fürWoche habe ich Qualen ausgestanden, wenn ich an ihr Schicksal gedacht habe. Mir war es sogar willkommen, dass der Stacheldraht bei dem Unfall damals meine Haut verletzt hat, denn damit sah ich nicht mehr so aus wie sie.
Ich umklammere meinen Kopf, bohre die Finger in den Schädel und drücke mein Gesicht auf die Knie. Ich musste mich immer erinnern, ich konnte gar nicht anders. Nie war mir der Gedanke gekommen, dass meine Schwester alles vergessen, dass sie wie Elias und ich aus demWald herausfinden könnte, aber schließlich ein so völlig anderes Leben bekommen würde als ich.
Sie ist am Meer aufgewachsen, beschützt und von einer Mutter geliebt. Deshalb konnte sie den Kopf so hoch halten, als sie die Brücke überquert hat. Deshalb hat sie keine R eaktion gezeigt, als ich sie gesehen habe, deshalb hat sie mich nicht erkannt.
Ich hatte in ihr alles sehen können, was ich mir je zu sein gewünscht habe. Ich hatte gesehen, was ich verloren hatte, was ich niemals haben konnte. Sie hatte sich nicht in mir wiedererkannt, weil sie überhaupt keineVorstellung davon hatte, wie es war, ein Leben wie meines zu leben.
Ich fühle mich leer. Diese andere Hälfte, die wie ein Schatten durch mein Leben gezogen ist, hat nicht mal gewusst, dass es mich gab.
»Weiß sie, dass ich auch hier bin? Erinnert sie sich irgendwie an mich?« Mit angehaltenem Atem warte ich auf die Antwort.
»Sie weiß, dass du hier bist«, sagt er schließlich. »Elias hat es ihr erzählt . A ber sie weiß nichts mehr aus eurer gemeinsamen Kinderzeit.«
Meine eigene Schwester erinnert sich nicht an mich. Ich habe mein Leben lang wiedergutmachen wollen, was ich ihr angetan hatte, und sie erinnert sich nicht mal daran.
»Ich muss sie finden«, flüstere ich. »Sie haben gesagt, sie könnte im Inneren Bereich sein. Ich muss irgendwie dahin kommen.«
Catcher rührt sich, er stößt an mein Knie, dann gleitet seine Hand an meinem Arm entlang und zupft an mir, bis ich ihn meine Hand halten lasse. »Wir müssen sie finden«, sagt er sanft.
Ich bin erschrocken über die ruhige Stärke seiner Berührung und den entschlossenenTon in seiner Stimme. Das macht mir Angst, weil ich mich an ihn lehnen und von ihm stützen lassen möchte. Soll doch jemand anders stark sein und die Führung übernehmen.
Einen Augenblick lang genieße ich diesen Gedanken und das Gefühl, dass er meine Hand hält. Dann reiße ich sie wieder zurück und
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