Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)
Straße entlang, um mich herum wie ein Rinnsal, ein paar Straßen weiter schon ein Fluss und in der Ferne ein Meer. Sie drücken sich an die verrotteten Türen und bröckelnden Mauern, die die Lebenden einschließen, und türmen sich unter Fenstern auf, ihre Finger greifen hoch, immer höher.
Zuerst ergibt das alles keinen Sinn, ich verstehe es nicht. Ich habe früher schon Durchbrüche gesehen, aber so etwas noch nie. Es sind einfach zu viele.
In nördlicher Richtung steht ein Gebäude in Flammen, Leute rennen über schwankende Brücken und bringen sich in Sicherheit. Panik liegt in der Luft, sämtliche Geräusche werden vom Sturm übertönt.
Die eigentliche Flutwelle vonToten ist ein paar Häuserblocks von hier entfernt, aber um uns herum sammeln sich ihre Ausläufer in den Straßen, stolpernd und nach den Lebenden gierend.
Wie eine Barriere türmen sich die Leichen um mich herum. Ich schaue mich zu dem Mann um, der mich angegriffen hat . A us seinem Kopf ragt ein hölzerner Bolzen. Ein weiterer fliegt gerade durch die Luft und trifft ein ungeweihtes Kind in vollem Lauf. Keinen Meter vor mir bricht es zusammen. Ich verfolge die Flugbahn des Geschosses zurück zu einem schmalen Fenster hoch oben in einem Haus in der Nähe, in dem die Spitze einer Armbrust zu erkennen ist.
Dankend hebe ich die Hand, da taucht Catcher aus der wachsenden Menge der Ungeweihten auf und greift nach meiner Hand. Ein Bolzen trifft seinen Oberarm, er wird gegen mich geschleudert. Entsetzt reiße ich den Mund auf, als Blut aus derWunde spritzt und den verschneiten Boden rot sprenkelt.
Catchers Gewicht drückt mich mitWucht an dieWand. Ungeweihte fluten um uns herum. Metall scheppert, ich merke, dass Catcher eine Machete vor meinen Füßen fallen gelassen hat. Blut läuft ihm über den Ellenbogen und über die Finger, denn der Bolzen steckt noch in seinem Oberarm.
»Lass mich helfen …« Ich will ihn herausziehen, aber Catcher schüttelt den Kopf und dreht sich weg.
»Die Machete«, keucht er, und ich ziehe die riesige Klinge unter ihm heraus. Catchers Augen sind weit aufgerissen vor Schmerz und Schock, sein Blick ist verschleiert. Er blinzelt schnell, versucht mir ins Gesicht zu sehen. »DieTunnel.« Mit zusammengebissenen Zähnen stößt er dieWorte abgehackt und harsch hervor. »Wir können zurück in dieTunnel.«
Dann bricht er den Bolzen ab und wirft das angespitzte Holzstück auf den Boden, bevor er auf die Ungeweihten losgeht, die uns denWeg versperren. Ich drücke mich an dieWand und schlage mit der Machete um mich, während er ächzend dieToten wegschubst.
So viele von ihnen kriechen um uns herum, ich kann nichts weiter tun, als wahllos die Machete schwingen. Ich schreie, Kampfeslust rast in mir, als ich Finger abhacke,Wunden ins Fleisch schlage und gegen Schienbeine trete. Mir ist jedes Mittel recht, ich will sie mir nur vom Leib halten. Gerade als der Strom uns zu überwältigen droht, erreichen wir die Gasse und sehen, dass sie frei ist. Hier sind keine Lebenden, dieTote anziehen könnten. Catcher schubst mich auf den Eingang desTunnels zu, und ich renne los, rutsche durch den gefrorenen Matsch, während der Wind sich mir entgegenstemmt.
Gegen die Windböen ankämpfend, hangele ich mich an Mauern entlang, bis ich ans Ende der Sackgasse gelange. Dort reiße ich die Türen auf, die in die Dunkelheit führen, und zögere. »Komm, Catcher!«, rufe ich ihm zu. Ich kann seinen Kopf kaum aus der Menge der Ungeweihten ragen sehen, die sich auf der Kreuzung von Gasse und Hauptstraße angesammelt haben. Mein erster Gedanke ist: Die Ungeweihten haben ihn erwischt und wollen ihn nicht gehen lassen.
»Catcher!«, brülle ich. Die Ungeweihten wanken schon in meine Richtung, sie folgen dem Blut auf meinen Lippen. Ich wische mir mit der Handfläche über den Mund. Mein Herz rast, die Muskeln sind angespannt, mein Selbsterhaltungstrieb ist erwacht.
Langsam dringen die Ungeweihten im Sturm vor, sie kennen keine Eile. Und das macht auch nichts. Es werden immer mehr. Sie drängen stetig voran. Die ersten paar kann ich töten, aber lange wird es nicht dauern, bis sie die Oberhand gewinnen.
Mit gefletschten Zähnen kommen sie auf mich zu, einige haben blutige Lippen, weil sie zuvor schon lebende Menschen gefunden haben, die sie beißen und anstecken konnten. Catcher windet sich durch die Menge wie einer von ihnen.
Bei seinem Anblick macht mein Herz einen Satz: Er – da – unter ihnen. Und sie bemerken ihn nicht mal. Es ist
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