Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)
stehe auf.
Ich habe schon einmal an die Stärke eines anderen geglaubt . A ls Elias weggegangen ist, habe ich versprochen, mich nie wieder in so eine Lage zu bringen.
»Also los, gehen wir«, sage ich. Dann renne ich so schnell dieTreppe hoch, dass er immer einen Schritt hinter mir bleiben muss.
Auf der Erde istTag . A ls ich die Türen aufreiße und wir aus der Dunkelheit nach draußen taumeln, werde ich von gleißendem Schnee geblendet. Catcher stolpert hinter mir her, wir halten uns beide die Arme vor die Gesichter, um uns vor dem grellen Morgen zu schützen. In der Gasse zwischen den Häusern heult ein schneidend kalter Wind, der sofort durch meine Kleider dringt.
Ich wickele den Mantel fest um mich und schlinge die Arme um die Brust, dann lasse ich mich vom Wind ans Ende der Gasse treiben. Die Haarspitzen peitschen mein Gesicht, ich muss die Augen schließen. In den Ohren tönt nur das Heulen, das alle anderen Geräusche übertönt – wie das Knirschen von Eis unter den Füßen und Catchers Schritte hinter mir. Der Wind macht uns Beine, schließlich stolpern wir um eine Ecke auf die belebte Kreuzung einer der Hauptstraßen der Neverlands.
Jemand aus der Menge rempelt mich an, ich verliere das Gleichgewicht und stolpere. Hände packen mich. Zuerst denke ich, Catcher will mich stützen, aber dann wird das Zerren so hartnäckig wie das eines aggressiven Bettlers, und ich rutsche auf einer vereisten Stelle aus. Mit einem R uck befreie ich meinen Arm, mein Ellenbogen rammt den Bettler im Fall. Beim Aufprall auf den Boden beiße ich mir in die Backe, ein metallener Geschmack füllt meinen Mund. »Lass mich los!«, brülle ich gurgelnd, gerade als der Bettler auf mir landet und mein Kopf hintenüber auf den Boden prallt.
Etwas kneift mich so heftig in den Arm, dass mir die Luft wegbleibt, und ich wehre das sauer riechende Kleiderbündel ab, das sich auf mir windet.
»Hör auf!«, brülle ich, das Blut von meiner zerbissenen Backe läuft mir in den Mund. Der Mann auf mir gebärdet sich wie wild, rammt mir den Ellenbogen in die Brust, lässt von meinem Arm ab und geht auf mein Gesicht los, ist verzweifelt hinter etwas her, das ich vermeintlich habe.
MeinVerstand hinkt etwas hinterher. Und erst als seine Zähne meinerWange immer näher kommen, werden mir zwei Dinge bewusst. Erstens, der Mann ist ein Ungeweihter, und zweitens, er hat mich gerade gebissen. Das war dieses Kneifen an meinem Arm.
Entsetzen steigt in mir auf und löst eine Panik in mir aus, wie ich sie noch nie zuvor empfunden habe. Ich hole aus, will mich im Angesicht desTodes rächen, schlage ihm ins Gesicht und trete auf seinen Oberkörper ein.
Doch er ist schwerer als ich, und die Schwerkraft bringt ihn mir näher. Ich drehe den Kopf weg, versuche unter ihm hervorzukriechen. »Catcher«, schreie ich verzweifelt. Der gefrorene Boden lähmt meine Arme, meine Füße finden nirgendwo Halt. Ich kann die Pestratte nicht abschütteln.
Also stoße ich dem Ungeweihten die Finger in die Augen und versuche seine Lippen von meinem Fleisch fernzuhalten, doch er will nicht von mir ablassen.
Mein Arm tut weh, und aus meinem Mund kommt ein nutzloses Grunzen . A uf diese Art soll ich doch nicht sterben! Ich habe so gekämpft. Ich habe den Ungeweihten so lange widerstanden, das darf jetzt einfach nicht passieren.
Ich knurre und schluchze, als sein Mund mein Ohr streift, das er mit der Zunge zwischen seine Zähne ziehen will. Um zu beißen. Um mich zu infizieren. Nur das zählt für dieses Ungeheuer. Ich bin nichts anderes für ihn als die Abwesenheit von Ansteckung, etwas Sauberes, das beschmutzt werden muss.
Seine Zähne ritzen meine Haut, noch einmal mehr und dann noch mal.
8
I ch greife dem Ungeweihten ins Haar, will ihn wegziehen, aber der Schopf ist zu kurz, ich bekomme ihn nicht richtig zu fassen. Da zuckt sein Kopf zwischen meinen Händen, er bricht auf mir zusammen und rührt sich nicht mehr.
Einen Moment lang überlege ich, ob diese Abwesenheit von Gefühl ein Merkmal ist für das Ungeweihtsein, ob das hier derTod ist. Dann geht ein weiterer R uck durch den Körper auf mir, und ich krieche schnell unter ihm hervor und über den eisglatten Boden so weit weg wie möglich.
Mein R ücken prallt gegen eine Mauer, an ihr richte ich mich auf. Der stürmische Wind hält inne, an seine Stelle tritt das allgegenwärtige Stöhnen, das aus Mündern gerissen und davongetragen wird, als der heulende Wind sich wieder erhebt. Leiber, Leiber und Leiber taumeln die
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