Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)
steht nur da, wohl wissend, dass er mir den einzigen Fluchtweg versperrt. »Ich sage Ox ja immer wieder, dass er euch mal ein bisschen rumzeigen soll, aber er scheint was dagegen zu haben. Noch jedenfalls.«
Ich halte den Griff des Messers so fest umklammert, dass ich das eingeritzte Muster ertasten kann. »Ich bin gerade auf demWeg nach Hause«, sage ich.
Er lacht. »Sind wir das nicht alle.«
»Catcher kommt gleich wieder.« Ich hebe das Kinn. »Das ist nur eine kurzeTour, hat er gesagt.«
»Er bleibt, wo er ist, wenn ich den Hebel von diesem Pestkäfig nicht umlege«, erwidert der R ekruter und zeigt auf den Ungeweihten, der in seinem Rad ins Leere tritt. Der Mechanismus ist ausgeschaltet. »DerWagen bleibt am anderen Ufer, solange ich das will.«
Ich versuche mich vorsichtig umzuschauen und mir einen Überblick über die Lage zu verschaffen . A bgesehen von ein paar anderen R ekrutern, die sich um ihre Feuer drängen, sind wir die Einzigen hier draußen. Mit Sicher heit interessiert sich niemand für das, was hier vorgeht.Vermutlich würde auch keiner Notiz davon nehmen, wenn ich schreien oder um Hilfe rufen würde. Das heißt, ich muss mich ganz allein aus dieser Lage befreien.
»Gute Nacht«, sage ich, behalte die Hände tief in denTaschen und gehe die Rampe entlang und um ihn herum auf dieTreppe zu. Da packt er mich an den Haaren.
»Lass das«, knurre ich, aber er lässt nicht los.
»Es ist so einsam hier.« Er reibt dieWange an meinem Haar. »Ich will nur was Sauberes,Weiches riechen.«
Mein Mund wird trocken. »Lass mich los«, blaffe ich und zerre den Kopf weg, aber er reißt mich zurück, sodass ich fast hintenüber falle. Dann schleift er mich ein Stück weiter die Rampe entlang in die Dunkelheit, wo niemand uns sehen kann. Meine Füße schrammen über das verzogene, eiskalte Holz, ich schlage auf ihn ein, vermag aber nicht viel auszurichten.
»Lass los!«, brülle ich wieder, hämmere mit Fäusten auf ihn ein, gehe mit den Fingernägeln auf seine Augen los. Er zerrt nur noch heftiger an mir, bis ich denke, mir bricht das Genick.
»Wir sorgen dafür, dass ihr alle in Sicherheit seid, hier auf dieser Insel. Dafür haben wir doch wohl eine Belohnung verdient?« Er krallt sich noch fester in mein Haar, wickelt es sich um die Finger.
Ich will etwas sagen, aber er hat meinen Hals so weit nach hinten gezerrt, dass ich nur gurgeln kann. Er lacht darüber. Ich hole zu einem Schlag aus, dem er mühelos ausweicht.
»Ich tue dir schon nicht weh«, sagt er. »Es sei denn, du willst es.« Mittlerweile hat er mich an die äußerste Kante der Rampe geschleppt und angefangen, sich den Schal abzuwickeln. Mein Haar hat er immer noch so fest gepackt, dass ich mich nicht rühren kann.
Als er dann anfängt, meinen Arm aus der Jacke zu ziehen, mir den Schal ums Handgelenk zu binden und das andere Ende um die R eling zu schlingen, begreife ich, wie sehr diese Sache aus dem R uder läuft.Wenn ich jetzt nicht schnell handele, kann ich ihn vielleicht gar nicht mehr zurückhalten.
Er will meinen anderen Arm packen, doch ich reiße den Ellenbogen hoch und treffe ihn am Kiefer. Er brüllt, kippt nach hinten, verliert das Gleichgewicht. Ein kurzes Stück zerrt er mich mit, dann reißt das Seil der R eling. Er stürzt von der Rampe. Sein ganzes Gewicht hängt an meinem Haar, reißt mich auf die Seite, auf das morsche Holz. Ein fürchterlicher Schmerz erfasst Kopf und Nacken. Panisch schlinge ich die Beine um einen der letzten Geländerpfosten, damit ich nicht hinter ihm her rutsche.
Sein Gewicht zerrt an meinem Haar, ich bekomme kaum noch Luft und fuchtele mit den Armen, damit das alles irgendwie aufhört. Mit der freien Hand greift er nach der Kante der Rampe, aber das Holz ist alt und nass vom Schnee und bröselt unter seinen Fingern.
»Hilf mir!«, schreit er. Schon höre ich, wie die Ungeweihten unter ihm sich regen, ihre Schritte knirschen im gefrorenen Matsch des Flussufers.
»Zieh mich hoch!«, brüllt er und greift nach mir. Der Schmerz ist überwältigend, ich will mich aus seinem Griff befreien, aber seine Finger haben sich in meinem Haar verfangen. Mit schmerzhaftem Prickeln reißt es aus.
»Lass los!«, schreie ich . A ber er tut es nicht. Ich schließe die Augen, beiße die Zähne zusammen und taste nach dem Messer in meinerTasche, das ich mit den Zähnen aufklappe. Immer noch versucht er, sich an meinen Haaren hochzuziehen. Stöhnen ertönt um uns herum, der Geruch von meiner blutenden Kopfhaut zieht
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