Die Stadt der Toten: Ein Fall für die beste Ermittlerin der Welt (German Edition)
sich der Schleier lüften. Alle Geheimnisse würden offen vor uns liegen, alle Rätsel würden gelöst.
»Wer war es?«, fragte ich. »Wer hat den Smaragd gestohlen?«
Tracy sah mich an und biss sich nachdenklich auf die Unterlippe. Sie schaute sich um; da wir nicht allein waren, beschloss sie, den Namen des Schuldigen auf einen Zettel zu schreiben. Sie schob ihn zu mir hinüber, als die Lehrerin nicht herschaute.
Duane Edwards, hatte sie geschrieben, der Butler.
Ich schnappte nach Luft und konnte es nicht glauben.
Der Butler? Wirklich?
Ich starrte aus dem Fenster und fing an zu träumen. Mir dämmerte eine Erkenntnis: Das Leben war unberechenbar. Man konnte niemandem trauen.
Fünf Jahre später waren Kelly, Tracy und ich keine Freundinnen mehr. Wir waren Schwestern. Wenigstens bildeten wir uns das ein. Zu jener Zeit, wir waren etwa vierzehn Jahre alt, verpassten wir uns gegenseitig mit einer in schwarze Tinte getauchten Nadel die Tätowierungen und ließen uns vor der Bar an der First Avenue fotografieren. Ich hatte ein T und ein K, Trace ein C und ein K und Kel ein T und ein C. Wir schworen uns ewige Freundschaft. Schwestern bis in alle Ewigkeit.
Aber meistens dauert die Ewigkeit viel weniger lang, als man denkt. Zwei Jahre später verschwand Tracy. Kurz darauf hörte Kelly auf, mit mir zu sprechen, und ich gab nach knapp einem Dutzend Kontaktversuchen auf.
Nun sah ich es in aller Deutlichkeit: Das Leben war unberechenbar. Man konnte niemandem trauen.
29
D en Rest des Nachmittags verbrachte ich im Coffeeshop und las alles, was ich online über Vic Willing finden konnte. Es war nicht viel. Hier und da ging es um seine Gerichtsprozesse, die übliche Litanei von Morden, Überfällen und Drogendelikten. Allein die Vorstellung, diese Fälle zu recherchieren und die jeweiligen Hauptpersonen ausfindig machen zu müssen, bereitete mir Kopfschmerzen. In New Orleans war die Aktenarchivierung ein seit langem ausgestorbenes Handwerk, und im Sturm war ein Großteil der Aufzeichnungen im wahrsten Wortsinn vom Winde verweht worden. Ich entdeckte Vic in den Klatschspalten. Mr. Willing begleitet Mrs. Branford Stepman zu einer Spendengala zugunsten unserer Streitkräfte. Staatsanwalt Vic Willing und Ms. Stephanie Ludwig amüsieren sich bei der Buchvorstellung von »Das war New Orleans«.
Mein Handy klingelte. Mick war dran.
»Bist du beschäftigt?«, fragte er.
»Sehr«, sagte ich, »was willst du?«
»Ich bin bei Coops«, sagte er. Er klang unterkühlt. Unterkühlt und einsam. »Hast du Hunger? Wollen wir zusammen zu Abend essen?«
Ich sagte zu. Ich lief zu Coops hinüber. Mick war schon da und aß eine frittierte Hauptspeise mit frittierter Beilage. »Wie kommt es, dass du keine fünfhundert Kilo wiegst?«, fragte ich.
»Und du?«, fragte er zurück. »Du inhalierst das Essen nur, seit du hier bist.«
»Wo ich wohne, ist es verboten zu essen«, erklärte ich. »Wenn man in San Francisco zunimmt, fliegt man raus.«
Ich bestellte Kaninchenjambalaya. Gerade als ich loslegen wollte, klingelte Micks Handy. Ich hörte eine hohe, dünne, hysterische Stimme am anderen Ende der Leitung, konnte aber kein Wort verstehen.
»Nein«, sagte Mick entschieden, »rufen Sie keinen Notarzt und auch nicht die Polizei. Rufen Sie niemanden an … Nein … Ich bin sofort da.« Er stand auf und zog seine Jacke an. »Ich bin gleich da. Warten Sie auf mich.«
Er beendete das Gespräch.
»Tut mir leid«, sagte er, »ich habe da einen kleinen Notfall. Wenn das Mädchen eingelocht wird, wäre es eine Katastrophe.«
»Macht nichts«, sagte ich, warf zwei Zwanziger auf den Tisch und schlüpfte in meinen Mantel. »Was ist passiert?«
»Da ist dieses Mädchen«, sagte Mick, »sie heißt Diamond. Süße Kleine. Heute musste ihre Mom ins Gefängnis. Sie haben nicht zusammen gewohnt, aber trotzdem. Sie hat sonst niemanden. Manchmal übernachtet Diamond in einem leerstehenden Haus im Neunten Bezirk. Da wohnt eine ganze Mädchenbande, die sich mit Betrügereien durchschlägt. Na ja, vor einer Weile hat sie eins der Opfer bis nach Hause verfolgt, deswegen haben sie sich bewaffnet. Was nicht weiter schlimm wäre, außer dass ich mir Sorgen mache, Diamond – die Kleine – könnte sich selbst was antun. Anscheinend flippt sie gerade aus. Keiner kann sie beruhigen.«
Die Drogenberatungsstelle war in einem großen, tristen Raum an der Canal Street nahe der Claiborne untergebracht. Früher war hier ein Supermarkt gewesen, man sah immer noch
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