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Die Stadt der verkauften Traeume

Die Stadt der verkauften Traeume

Titel: Die Stadt der verkauften Traeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Whitley
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dem Mittagessen, das ihm zu Ehren unter einem großen Baldachin gegeben wurde, erwartete er unablässig, dass alle plötzlich verstummen würden, ihre Jubelrufe aufhörten und der Schatten des Grafen über die Versammlung fiel. Doch das geschah nicht. Auch Prendergasts parfümierte Öle waren nirgends zu riechen. Selbst als Mark voller Beklommenheit in einer von Lord Ruthven bezahlten Kutsche zum Turm zurückgefahren worden war, fand er dort nur gähnende Leere vor. Der einzige Hinweis darauf, dass der Graf dort gewesen war, war die weit offen stehende Eingangstür. Soweit Mark das sehen konnte, war nichts angerührt worden.
    Aber er konnte sich nicht sicher sein. Er hatte den Turm vom Keller, der immer noch nach den Versuchen des Doktors roch, bis in die luftigen Höhen des Observatoriums durchsucht, aber alles war dunkel und verlassen gewesen. Der allgegenwärtige Staub lag unberührt da.
    Ohne den Grafen kam ihm der Turm eigenartig vor. Der Graf hatte jede Mauerritze ausgefüllt, seine Stimme hatte auf sämtlichen Korridoren widergehallt. Ohne ihn war der Turm bloß ein Gebäude, das Mark sehr fremd erschien.
    Erst gegen Mitternacht dachte er darüber nach, was wohl passieren würde, falls der Graf nicht wiederkam. Bis dahin hatte er seine Rede vorbereitet, in der er sämtliche Lorbeeren für seinen Erfolg ihm zuschreiben wollte, solange er ihn als seinen Gehilfen behielt, vielleicht mit ein paar mehr Rechten für ihn, Mark. Nach seinem wundersamen Erfolg hatte er das Gefühl, er habe das Recht, mehr zu verlangen. Schließlich musste das Schicksal ihm doch wohlgesinnt sein, da es Signora Sozinhos Stimme auf diese Weise wiederhergestellt hatte. Oder aber sein Talent für die Sterndeuterei war bei weitem größer, als alle vermutet hatten – inklusive seiner selbst.
    Er erinnerte sich daran, wie die Menge auf die Tribüne der Sterndeuter gestürmt war, wie die Leute ihn auf die Schultern gehoben und ihn als neues Genie über den Platz getragen hatten. Dabei hatte er an nichts anderes denken können als an den ersten Ton des Liedes der Signora, an den Augenblick, in dem sich eine seiner Prophezeiungen tatsächlich erfüllt hatte.
    In dieser einen Sekunde hatte er es geglaubt, hatte ganz deutlich gespürt, wie die Macht der Sterne durch ihn hindurchfloss. Dann aber war ihm schlagartig wieder klar geworden, aufweiche Weise er seine ersten beiden »Wunder« arrangiert hatte. Er fragte sich, ob der Graf jemals in einer solchen Lage gewesen war: der Einzige, der die Vorstellung nicht genießen konnte, weil er allein die Faden sah, an denen die Marionette zappelte.
    Wenn aber der Graf nicht wiederkam … Was sollte er dann anstellen? Wohin sollte er gehen? Durfte er ohne den Grafen einfach hierbleiben? Selbst wenn ja, wie lange würde er sich mit seinen Voraussagen geschäftlich durchschlagen können? Wie lange würde ihn sein Ruhm ernähren?
    Er fand keine Antwort darauf. Die ganze Nacht nicht. Nicht einmal, als er im Observatorium stand und auf die dunkle Stadt hinabblickte, deren winzige Fackellichter aussahen, als seien sämtliche Sterne auf die Erde gefallen.
    In diesem Moment hätte er Lily ganz besonders dringend gebraucht. Er hatte sie am Nachmittag in der Menge gesehen, aber es war ihr nicht geglückt, durch das Gedränge seiner Bewunderer in seine Nähe zu gelangen. Den ganzen Tag über hatte er sich gewünscht, jemanden zu finden, den er kannte. Irgendjemanden. Ständig wurde rings um ihn gefeiert, aber es war niemand da gewesen, mit dem er sich gemeinsam hätte freuen können.
    Mark hielt inne. Der schwarze, wolkenverhangene Nachthimmel umgab ihn.
    Einen Moment lang dachte er, er würde Fisch riechen. Er erinnerte sich daran, wie er noch ganz klein gewesen war und den Geschichten gelauscht hatte, die seine Mutter erzählte, und wie sein Vater mit dem Tagesfang nach Hause kam.
    Seine Mutter wäre stolz auf ihn gewesen. Aber sie war längst tot. Und sein Vater … Wenn er nicht tot war, dann war er zumindest für Mark tot.
    »Schau mich jetzt an, Vater«, sagte Mark laut. Seine Stimme brach sich an den Wänden des Observatoriums. »Es hat sich nicht gelohnt, mich zu behalten? Sieh nur, was aus mir geworden ist. Ich bin ganz oben. Gestern haben sie mich ein Wunderkind genannt.« Mark schluckte. Seine Augen waren feucht. »Für sie bin ich mehr als nur ein Etwas, womit man eine Rechnung bezahlt.«
    Er erhielt keine Antwort.
    Als die ersten Sonnenstrahlen des frühen Morgens durch die Wolken brachen und die Dächer

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