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Die Stadt und die Stadt

Die Stadt und die Stadt

Titel: Die Stadt und die Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
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Gerät erschießen. Das Display informierte mich, dass Dhatt der Anrufer war.
    »Nur die Ruhe«, sagte ich. »Ich stell's ab. Ich stell's ab.« Wenn Dhatt aufpasste, musste er bemerken, dass sein Anruf zur Mailbox umgeleitet wurde, bevor die Klingelsequenz zu Ende war. »Was ist passiert? Wer hat dir Angst eingejagt? Weshalb bist du geflohen?«
    »Ich wollte nicht warten, bis sie mich erwischen. Sie haben gesehen, was mit Mahalia passiert ist. Sie war meine Freundin. Ich habe versucht mir einzureden, dass es nicht so weit kommt, aber jetzt ist sie tot.« Sie sagte »tot« in einem fast ehrfürchtigen Ton. Ihr Gesicht verfiel ganz plötzlich. »Sie haben sie ermordet!«
    »Du hast bei deinen Eltern nichts von dir hören lassen.«
    »Ich kann nicht. Ich kann nicht, ich muss ...« Sie kaute an ihren Fingernägeln und fand endlich die Courage, mir in die Augen zu sehen. »Wenn ich es schaffe, von hier wegzukommen ...«
    »Dann stracks zur Botschaft im Nachbarland? Hinter den Bergen? Warum nicht hier? Oder in Besźel?«
    »Sie wissen, warum.«
    »Nimm an, ich weiß es nicht.«
    »Weil die hier sind, und drüben sind sie auch. Die ziehen die Fäden. Die suchen nach mir. Nur weil ich rechtzeitig untergetaucht bin, haben sie mich noch nicht gefunden. Die werden nicht zögern, mich umzubringen, wie sie meine Freundin umgebracht haben. Weil ich weiß, dass es sie gibt. Weil ich weiß, es gibt sie wirklich.«
    Ihre klägliche Stimme war für Aikam Grund genug, sie trotz Schmerzen zu umarmen.
    »Wer?« Sprechen wir's aus.
    »Die dritte Stadt. Zwischen der Stadt und der Stadt. Orciny.«
 
    Noch vor einer Woche hätte ich mir an die Stirn getippt und ihr gesagt, sie wäre zu gutgläubig und sähe Gespenster. Mein Zögern - als sie mir von der Verschwörung erzählte, gab es diese Sekunden, die mich indirekt aufforderten, Einspruch zu erheben, Phantasterei zu postulieren, doch ich ließ sie ungenutzt verstreichen - vermittelte ihr den Eindruck, dass sie mich überzeugt hatte. Sie betrachtete mich als Mitverschworenen, und obwohl nicht eingeweiht, verhielt ich mich wie einer. Ich konnte ihr nicht versprechen, ihr Leben wäre nicht in Gefahr. Oder Bowdens. Vielleicht war er längst tot. Oder meins. Oder dass ich sie beschützen konnte. Ich konnte ihr so gut wie gar nichts versprechen.
    Yolanda versteckte sich an einem Ort, den ihr getreuer Aikam gefunden und notdürftig bewohnbar gemacht hatte, in einem Teil der Stadt, der sonst nie in den Bereich ihrer Wahrnehmung geraten wäre und dessen Namen sie erst erfuhr, als sie nach einer anstrengenden, geheimen, mitternächtlichen Flucht auf verschlungenen Wegen hier eintraf. Aikam und sie hatten getan, was in ihren Möglichkeiten stand, um in dem Unterschlupf so etwas wie eine heimelige Atmosphäre zu schaffen. Doch es war und blieb ein trostloses Loch in einem Slum, aus dem sie sich nicht hervorwagte, aus Angst vor den unsichtbaren Mächten, die sie tot sehen wollten.
    Ich neigte zu der Annahme, dass sie diese Seite der Stadt nie gesehen hatte, doch vielleicht irrte ich da. Gut möglich, dass ihr im Fernsehen die ein oder andere Dokumentation untergekommen war: Die dunkle Seite des qomanischen Traums oder Der Neue Wolf — räudig? oder etwas in dieser Art. Filme über unseren Nachbarn erfreuten sich in Besźel keiner sonderlichen Popularität, kamen selten ins Kino, deshalb könnte ich es nicht mit Bestimmtheit sagen. Doch überraschen würde es mich nicht, wenn tatsächlich jemand einen Blockbuster gedreht und sich der Gangs in den Slums von Ul Qoma als Kulisse bedient hätte für seine Moritat von der Läuterung eines nicht wirklich bösen Drogendealers sowie der dramatischen Exekution einiger seiner weniger sympathischen Kollegen. Also hatte Yolanda vielleicht Bilder der gescheiterten Vorortsiedlungen über Bildschirm oder Leinwand flimmern gesehen, doch bestimmt hatte sie nie die Absicht gehabt, persönlich hier vorbeizuschauen.
    »Kennst du deine Nachbarn?«
    Ohne zu lächeln: »Ihre Stimmen.«
    »Yolanda, ich weiß, du hast Angst ...«
    »Sie haben Mahalia, sie haben Dr. Bowden, jetzt wollen sie mich.«
    »Ich weiß, du hast Angst, aber ich brauche deine Hilfe. Ich bringe dich von hier weg, aber ich muss wissen, was passiert ist. Wenn ich im Dunkeln tappe, kann ich dir nicht helfen.«
    »Mir helfen?« Sie schaute sich im Zimmer um. »Sie wollen, dass ich Ihnen von Orciny erzähle und von denen, die Orciny sind? In Ordnung, schlafen Sie auf der Couch? Denn Sie werden bei mir

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