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Die Stadt und die Stadt

Die Stadt und die Stadt

Titel: Die Stadt und die Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
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Bedeutung, bei weitem fundamentaler als jedes der Gesetze, die zu schützen ich bezahlt wurde.
    Als Kinder spielten wir Grenzbruch. Mein Lieblingsspiel war es nicht, trotzdem bemühte ich mich, wenn ich an der Reihe war, möglichst unauffällig die mit Kreide eingezeichneten Linien zu überqueren, verfolgt von meinen Freunden, die Furcht einflößende Grimassen schnitten und mit Krallenhänden nach mir griffen. Beim nächsten Mal, wenn neu ausgelost wurde, war dann vielleicht ich einer der Häscher. Das, sowie Hölzchen und Steine aus der Erde graben und die Entdeckung der magischen archäologischen Fundgrube Besźels verkünden und eine Mischung aus Fangen und Verstecken namens Zwischlerjagd, waren unsere üblichen Spiele.
    Keine Religion kann so abstrus sein, dass sie nicht irgendwann irgendwo einem Hirn entsprungen wäre. In Besźel gibt es eine Sekte, deren Anhänger Ahndung verehren, die den Grenzbruch bestrafende Institution. Skandalös, aber nicht wirklich überraschend in Anbetracht der nahezu unbeschränkten und mysteriösen Macht von Ahndung. Kein Gesetz verbietet die Gemeinschaft, obwohl ihre spezielle religiöse Überzeugung allgemeine Nervosität erzeugt. Sie war Gegenstand reißerischer Fernsehsendungen gewesen.
    Um drei Uhr morgens war ich betrunken und hellwach, lehnte am Fenster und schaute auf die Straßen Besźels (nicht nur - auch auf die Deckungsgleiche). Ich hörte Hunde bellen, und ein oder zwei Mal antwortete das Heulen eines mageren, räudigen Straßenwolfs. Die vollgekritzelten Blätter - Für und Wider, als wäre das Ganze nichts anderes als eine papierne Diskussion - lagen auf dem ganzen Tisch verteilt; rotweinfarbene Gläserringe verunzierten Fulana-Maryas Gesicht wie auch die sich überkreuzenden Mist/ Mist/Mist-Kommentare.
    Dass ich nicht schlafen kann, passiert recht häufig. Sariska und Biszaya waren seit langem daran gewöhnt, mich, wenn sie nachts schlaftrunken vom Schlafzimmer ins Bad tappten, am Küchentisch sitzen zu sehen, lesend und Kaugummi kauend bis zum Zuckerausschlag (ich wollte auf keinen Fall wieder anfangen zu rauchen). Oder sie fanden mich versunken in das Panorama der nächtlichen Stadt und (nichtsehend, doch berührt von ihrem Licht) ihrer ignorierten Nachbarin.
    Sariska hatte sich einmal lustig über mich gemacht. »Sieh dich an«, spottete sie liebevoll. »Sitzt da wie eine Eule und hoffst auf philosophische Einsichten, nur weil Nacht ist. Weil in ein paar Häusern die Lichter an sind.« Doch jetzt war Sariska nicht hier, um mich zu necken, und mich verlangte nach Einsicht gleich welcher Art, sei sie auch trügerisch, deshalb ließ ich mich weiter von der Aussicht in Bann schlagen.
    Über den Wolken zogen Flugzeuge ihre Bahn. Kirchtürme badeten im Licht von Wolkenkratzern. Wellen-und halbmondförmige Architektur jenseits der Grenze. Ich versuchte, mit meinem Computer ins Netz zu gehen und ein paar Recherchen anzustellen, aber ich konnte die Verbindung nur über Einwahlmodem herstellen und alles dauerte ewig und war sehr frustrierend, deshalb gab ich auf.
    »Einzelheiten später.« Ich glaube, ich sagte es laut. Ich bedeckte noch ein, zwei Blätter mit Notizen. Zu guter Letzt wählte ich die Nummer von Corwis Dienstanschluss in ihrem Büro. Immer wenn ich die Unwahrheit sage, rede ich zu viel und zu schnell. Deshalb zwang ich mich, langsam zu sprechen, Kunstpausen einzulegen, als ließe ich sie an einem noch im Werden begriffenen Gedankengang teilnehmen. Allerdings war sie nicht dumm. »Es ist spät. Ich spreche Ihnen das Folgende auf Band, weil ich wahrscheinlich morgen nicht im Haus sein werde. Bei unseren Befragungen auf der Straße ist nichts Brauchbares herausgekommen, folglich liegen wir mit unserer Ausgangsvermutung wahrscheinlich daneben -jemand hätte sie erkennen müssen. Wir haben ihr Bild an alle Polizeireviere geschickt; falls sie im horizontalen Gewerbe tätig war, landen wir vielleicht noch einen Glückstreffer. In der Zwischenzeit würde ich gern noch ein paar andere Ansätze verfolgen, ohne die bisherigen Ermittlungen einzustellen, natürlich.
    Sie müssen zugeben, die Dame ist nicht auf ihrem Terrain, die Situation ist merkwürdig, wir kriegen keine Rückmeldung. Ich habe mit einem Bekannten in der Dissidenten-Einheit gesprochen, und er erzählt, wie geheimnistuerisch die Leute sind, die er observiert. Alles Nazis und Rote und Unifs und so weiter. Einerlei, ich komme so ins Grübeln, was für Leute ihre Identität wohl so gut verborgen halten wie

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