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Die Stadt und die Stadt

Die Stadt und die Stadt

Titel: Die Stadt und die Stadt
Autoren: China Miéville
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dazu, glaube ich - jedenfalls, er wird gesprächig. Zuerst druckste er herum, aber ich konnte ihm ansehen, dass er etwas auf dem Herzen hatte. Sie sind ein gottverdammtes Genie, Chef. BudapestStrász 68 ist ein Hauptquartier der Unifikationisten.«
    Ihre staunende Bewunderung war nicht weit entfernt von Argwohn. Wie skeptisch sie mich erst gemustert hätte, hätte sie die Zettelwirtschaft auf meinem Tisch gesehen, in der ich wühlte, als sie anrief. Mehrere Bücher lagen beim Inhaltsverzeichnis aufgeschlagen da, um auf einen Blick erkennen zu können, was sie zum Thema Unifikationismus zu sagen hatten. Die Adresse in der BudapestStrász war mir noch nicht untergekommen.
    Dem typischen politischen Klischee entsprechend, waren die Unifikationisten in zahlreiche Gruppierungen zersplittert. Einige davon waren illegal, sowohl in Besźel als auch in Ul Qoma aktiv. Diese Geächteten hatten mehrfach in ihrer Geschichte den Einsatz von Gewalt befürwortet, um die Städte zu ihrer von Gott/dem Schicksal/der Geschichte/dem Volk gewollten Einheit zu zwingen. In den weniger radikalen Phasen begnügte man sich mit zumeist dilettantischen Anschlägen auf nationalistisch gesinnte Intellektuelle - Ziegelsteine durch Fenster, Scheiße durch Türen. Außerdem standen sie im Verdacht, heimlich Propaganda bei Flüchtlingen und Einwanderern zu treiben, die das Sehen beziehungsweise Nichtsehen erst lernen mussten, die Beschränkung auf nur eine Stadt. Die Aktivisten wollten diese urbane Unsicherheit als Waffe nutzen.
    Diese extremistischen Gruppierungen wurden - mit Worten - verurteilt von denen, die für Versammlungsfreiheit und freie Wahl des Aufenthaltsortes eintraten, ungeachtet ihrer wirklichen Ansichten, die sie für sich behielten, und der konspirativen Vernetzungen im Hintergrund. Daneben kungelte man in Fraktionen, die unterschiedliche Vorstellungen davon hatten, wie die vereinigte Stadt dereinst aussehen sollte, wie sie heißen, welche Sprache man sprechen würde. Auch diese legalen Splittergruppen wurden hüben wie drüben akribisch beobachtet und in regelmäßigen Abständen überprüft. »Schweizer Käse«, bemerkte Shenvoi, als ich am Morgen mit ihm redete. »Bei den Unifs gibt es aller Wahrscheinlichkeit nach mehr Informanten und Maulwürfe als bei den Rechten Bürgern oder Nazis oder anderen Verrückten. Ich würde mir wegen denen keine Sorgen machen. Die husten nicht einmal ohne Erlaubnis von jemandem im Sicherheitsdienst.«
    Und natürlich mussten sich die Unifs darüber im Klaren sein - selbst wenn sie hoffen mochten, nie den Beweis dafür erleben zu müssen -, dass nichts von dem, was sie taten oder sagten, vor Ahndung verborgen blieb. Und damit würde auch ich während meines Aufenthalts in diesen Kreisen auf dem Radar dieser Institution erscheinen, falls man mich dort nicht ohnehin schon im Auge hatte.
    Jedes Mal, wenn ich irgendwohin wollte, stellte sich die Frage des Verkehrsmittels. Eigentlich hätte ich ein Taxi nehmen sollen, weil Corwi wartete, aber nein, zwei Straßenbahnlinien, einmal umsteigen, am Venceslas Square. Steinerne Statuetten und Glockenspielfiguren geachteter Bürger Besźels zierten die Stadthausfassaden; ich ließ mich unter ihnen hindurchschaukeln und ignorierte, nichtsah die glänzenderen Fronten des Anderswo, die alter loci.
    Die ganze BudapestStrász entlang schäumte Winterflieder um die Mauern alter Häuser. Winterflieder ist ein traditionelles städtisches Gewächs in Besźel, nicht so in Ul Qoma. Dort wird alles, was hinüberwuchert, radikal gekappt, wie in der BudapestStrász, dem Besźel-Bereich eines deckungsgleichen Areals, besonders deutlich zu sehen: Jeder Busch überwucherte in ungehemmtem Wildwuchs ein oder zwei oder drei hiesige Gebäude und endete dann in einem jähen, senkrechten Schnitt am Rand von Besźel.
    Die Besź jedes krönte einer der Laren, der Schutzgötter von Haus und Familie, die mich anstarrten, kleine, menschengestaltige Grotesken mit langen Tressen aus Winterflieder.
    Vor etlichen zehn Jahren waren die Häuser nicht so verwaist gewesen, aus den Fenstern hätte man Stimmen und Musik gehört, Lachen und Schimpfen, auf der Straße junge Menschen im dunklen Anzug oder Kostüm ins Büro eilen sehen und Handwerker zu ihrer Arbeitsstelle. Hinter den Gebäuden im Norden lag ein Industriegebiet und dahinter eine Flussschleife mit ehedem betriebsamen Hafenanlagen, jetzt ein stiller Friedhof stählerner Skelette.
    Damals war die Gegend Ul Qomas, die hier Besźel
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