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Die Stadt und die Stadt

Die Stadt und die Stadt

Titel: Die Stadt und die Stadt
Autoren: China Miéville
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mit diakritischen Zeichen - das Schriftbild erinnert, hört man häufig, an Kyrillisch (ein Vergleich, der, ob zutreffend oder nicht, jedem Bürger Besźels sauer aufstoßen würde). Illit bedient sich der Buchstaben des lateinischen Alphabets. Eine Entwicklung der jüngeren Vergangenheit.
    In den Reiseführern aus dem vorigen Jahrhundert und davor wird unfehlbar über die exotische, von rechts nach links geschriebene illitische Kalligrafie berichtet. Irgendwann hat jeder die Passage aus Sternes Reisebericht gehört: »Im Reich der Alphabete liebäugelte Arabisch mit der Dame Sanskrit (trunken, Mohammeds Gebot zum Trotz, sonst hätte ihr Alter ihn abgeschreckt). Neun Monate später erblickte ein verleugnetes Kind das Licht der Welt. Der eigenwillige Spross ist Illit, Hermaphrodit nicht ohne Reiz. In seiner Gestalt zeigt sich das Erbe beider Eltern, doch seine Stimme ist die jener, die ihn aufzogen - der Vögel.«
    Diese fantastische Schrift ging 1923 verloren, über Nacht, ein Höhepunkt von Ya Ilsas Reformen: dem Atatürk nacheiferte, nicht, wie stets behauptet, umgekehrt.
    In Ul Qoma kann niemand mehr die alte illitische Schrift lesen, ausgenommen Archivare und Aktivisten.
    Ob nun in seiner alten oder neuen geschriebenen Form, Illit hat keine Ähnlichkeit mit Besź. Auch gesprochen nicht. Die Unterschiede reichen aber nicht so tief, wie es scheint. Trotz sorgfältiger kultureller Abgrenzung sind die Sprachen eng verwandt, was ihre Grammatik angeht und den Zusammenhang ihrer Phoneme (wenn auch nicht der Laute an sich) - immerhin haben sie einen gemeinsamen Ahnen. Es kommt einem vor wie Hochverrat, das auszusprechen. Dennoch.
    Besźels dunkle Zeitalter sind wahrhaft dunkel. In diesem Dunkel liegt auch der genaue Zeitpunkt der Gründung; man weiß nur, die Stadt ist zwischen 1700 und 2000 Jahre alt. Es existieren Relikte aus dieser Zeit, im Herzen der Stadt, als sie noch ein Hafen war, durch ihre Lage einige Kilometer flussaufwärts sichere Zuflucht vor den Piraten an der Küste. Die Stadt entstand gleichzeitig mit einer anderen, natürlich. Die Ruinen bilden heute, eingewachsen in die Substanz der Stadt, deren antikes Fundament. Andere Funde stammen aus noch früherer Zeit, wie die Reste von Mosaiken im Yozhef Park. Diese Artefakte, die an römische erinnern, sind älter als Besźel, glauben wir. Möglicherweise haben wir Besźel auf den Gebeinen derer errichtet, die vor uns hier siedelten.
    Vielleicht war es Besźel, vielleicht nicht, was wir errichtet haben, damals, als andere vielleicht Ul Qoma auf denselben Gebeinen bauten. Vielleicht gab es damals nur eine Stadt, die später auf den Ruinen eine Zweiteilung erfuhr, oder vielleicht waren das Besźel unserer Vorfahren und jene Anderen sich noch nicht begegnet, um sich auf die bekannte Weise zu verschwistern. Ich bin kein Historiker, der die Umstände der Spaltung erforscht, doch auch wenn ich es wäre, wüsste ich's trotzdem nicht.
 
    »Chef.« Lizbyet Corwi war am Apparat. »Chef, Sie haben ins Schwarze getroffen. Wie konnten Sie das wissen? Ich warte auf Sie in der BudapestStrász. Nummer 68.«
    Ich lungerte noch im Räuberzivil in der Wohnung herum, dabei ging es schon auf Mittag. Mein Küchentisch war mit Zetteln zugeschneit. Sämtliche in meinem Besitz befindlichen Bücher über Politik und Geschichte stapelten sich neben der Milch zu einem Turmbau von Babel. Meinen Laptop hätte ich aus diesem Chaos entfernen sollen, aber zum Teufel. Ich wischte Kakaopulver von meinen Notizen. Die schwarzgesichtige Werbefigur auf meiner französischen Trinkschokolade grinste mich an. »Wovon reden Sie? Was hat es mit dieser Adresse auf sich?«
    »Die BudapestStrász liegt in Bundalia«, klärte sie mich auf. Aha. Eine von Industrie geprägte Vorvorstadt nordwestlich vom Funikular Park, am Fluss. »Und soll das ein Witz sein, was es damit auf sich hat? Ich habe getan, was Sie wollten - habe mich umgehört, mir einen Überblick über die Szene verschafft, was für Gruppen es gibt, wie sie zueinander stehen, blablabla. Ich war den ganzen Vormittag unterwegs und habe Fragen gestellt. Habe ein bisschen Angst und Schrecken verbreitet. Die Typen da haben nicht viel Respekt vor Gesetzeshütern in Uniform, müssen Sie wissen. Ich gebe zu, ich bin nicht mit großen Hoffnungen losgezogen, andererseits gab es sonst nicht viel zu tun. Wie auch immer, ich schaue mich um, mache mir ein Bild von der Politik in den Kreisen und so weiter und einer von den Typen in einer der - Logen sagt man
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