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Die Stadt und die Stadt

Die Stadt und die Stadt

Titel: Die Stadt und die Stadt
Autoren: China Miéville
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überlagerte, eher rückständig gewesen, jetzt herrschte rege Geschäftigkeit: Die Nachbarn hatten sich in ökonomischer Antiphase entwickelt. Wie der Hafen- und Schiffsbetrieb in Besźel stagnierte, prosperierte die Wirtschaft Ul Qomas, und heutzutage waren mehr nichtsehbare Externe auf dem abgewetzten, deckungsgleichen Kopfsteinpflaster unterwegs als Einwohner Besźels. Die heruntergekommenen Mietskasernen Ul Qomas, von Zinnen gekrönter Lumpenbarock (nicht, dass ich sie sah - ich war peinlich darauf bedacht zu nichtsehen, aber gerade das Verbotene pflegt sich der Wahrnehmung aufzudrängen, und ich erinnerte mich an Fotografien dieser Gegend), waren renoviert, Sitz von Galerien und .uq-Startups.
    Ich verfolgte die Hausnummern. Sie steigerten sich etappenweise, immer wieder unterbrochen von Ul-Qoma-Enklaven. In Besźel waren kaum Leute auf der Straße, um so mehr anderwärts, und ich musste nichtsehend zahlreichen jungen, ungemein tüchtig wirkenden Männern und Frauen ausweichen. Ihre Stimmen schlugen gedämpft an mein Ohr, unspezifische Geräuschkulisse. Dieses selektive Hören ist eine Folge vieler Jahre darauf gerichteter Erziehung.
    Als ich den geteerten Bau erreichte, vor dem Corwi mit einem bedrückt aussehenden Typ wartete, standen wir drei in einem nahezu verlassenen Teil von Besźel-Stadt zusammen, umwogt von einer ungehörten Menschenmenge.
    »Chef, das ist Pall Drodin.«
    Drodin war ein langer, dünner Mann Ende dreißig. Er trug mehrere Ohrringe, eine mit obskuren und unverdienten Wappen irgendwelcher militärischen Organisationen geschmückte Lederjacke und eine ausnehmend elegante, allerdings lange nicht gereinigte Hose. Er musterte mich unglücklich durch den Rauch seiner Zigarette.
    Er war nicht verhaftet. Corwi hatte ihn nicht festgenommen. Ich begrüßte sie mit einem Kopfnicken, dann vollführte ich eine langsame Drehung um einhundertachtzig Grad und ließ den Blick über die uns umgebenden Gebäude wandern. Selbstverständlich nur die hiesigen.
    »Ahndung?«, fragte ich. Drodin sah überrascht aus. Corwi ebenfalls, aber sie fasste sich schnell. Als Drodin nicht antwortete, hakte ich nach. »Glauben Sie, dass wir von gewissen höheren Mächten beobachtet werden?«
    »Ja, nein, werden wir.« Er hörte sich verärgert an. Er war verärgert. »Klar doch. Fragen Sie mich, wo sie stecken?« Eine mehr oder weniger bedeutungslose Frage, doch jeder Besź und jeder Qomani hat sie immer und überall im Hinterkopf. Drodin schaute mir unverwandt in die Augen. »Sehen Sie das Gebäude auf der anderen Straßenseite? Die alte Zündholzfabrik?« Ein verwittertes Wandbild, fast hundert Jahre alte Farbreste, ein Salamander lächelte durch seine Korona aus Flammen. »Man sieht, wie sich was bewegt da drin. Irgendwas taucht auf und verschwindet, wie es nicht normal ist.«
    »Dann können Sie sehen, wie sie erscheinen?« Er schaute wieder unbehaglich drein. »Sie glauben, dass sie sich in dem Gebäude manifestieren?«
    »Nein. Nein, reiner Eliminationsprozess.«
    »Drodin, gehen Sie hinein. Wir sind in einer Sekunde bei Ihnen«, sagte Corwi. Zeigte mit dem Kopf auf die Tür und er ging. »Was ist los, Chef?«
    »Wieso?«
    »Was soll das Gerede von Ahndung?« Bei Ahndung senkte sie die Stimme. »Was haben Sie vor?« Ich schwieg. »Ich bemühe mich, hier eine Dynamik der Kräfte zu etablieren, und das dicke Ende bin ich, Chef, nicht Ahndung. Ich will nicht, dass diese Scheiße mir die Tour vermasselt. Wie zum Teufel kommen Sie auf diese bescheuerten Ideen?« Als ich wieder nichts sagte, wandte sie sich ab und ging kopfschüttelnd mir voran ins Haus.
    Die Besźqoma Solidaritätsfront war kein Anhänger des Prinzips Schöner Wohnen. Zwei Zimmer, zweieinhalb, wenn man großzügig sein wollte, Schränke und Regale voll mit Aktenordnern und Bücher. In einer Ecke hatte man ein Stück Wandfläche frei gemacht und weiß getüncht, offenbar als Hintergrund; eine Webcam war auf die Stelle gerichtet, und auf den leeren Stuhl davor.
    »Fernsehen«, erklärte Drodin. Er folgte meiner Blickrichtung. »Online.« Er fing an, eine Webadresse aufzusagen, bis ich abwinkte.
    »Alle anderen sind gegangen, als ich hereinkam«, sagte Corwi.
    Drodin setzte sich hinter seinen Schreibtisch im zweiten Raum. Es gab noch zwei weitere Stühle. Er bot sie uns nicht an, aber Corwi und ich nahmen trotzdem Platz. Noch mehr Bücher, ein schmuddeliger Computer. An einer Wand eine Karte von Besźel und Ul Qoma in großem Maßstab. Um Strafverfolgung zu
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